31 - Und Friede auf Erden
den Pyramiden gehen kann, ohne von den anderen Gästen beachtet zu werden oder den Schließer belästigen zu müssen. Es wurde mir zugesagt.
Im Speisesaal angekommen, sah ich, daß die Chinesen schon gefrühstückt haben mußten. Sie waren nicht da, aber das gebrauchte Geschirr stand noch auf ihrem Tisch. An dem zu meiner andern Hand saß Mr. Waller ganz allein. Er hatte die leere Tasse vor sich, sah höchst gelangweilt aus und schien auf seine Tochter zu warten. Als der Kellner mich bediente und dabei an ihm vorüberging, fragte er ihn nach Monsieur Fu und Monsieur Tsi.
„Stehen eben im Begriff, abzufahren“, lautete die Antwort.
„Was? Sie reisen ab?“
„Nein. Sie bleiben noch für längere Zeit hier, um die Umgebung Kairos ebenso genau wie die Stadt selbst kennenzulernen. Heut wollen sie nach Gizeh. Sie schlafen in Menahouse und gehen morgen nach den Pyramiden von Sakkara.“
Das interessierte nicht nur den Missionar, sondern auch mich. Ich hatte also Gelegenheit, sie heut und morgen an den angegebenen Orten zu sehen, und nahm mir vor, einer etwaigen Gelegenheit, mit ihnen dort zu verkehren, nicht aus dem Wege zu gehen.
Nach einiger Zeit kam Mary, und ihr Vater ließ servieren. Ich erfuhr, ohne die Absicht zu hegen, sie zu belauschen, daß die Miß von einem Ausgang zurückkehrte. Sie hatte einige kleine Einkäufe gemacht. Als die Gegenstände betrachtet worden waren, teilte ihr der Vater mit, daß die Chinesen nach den Pyramiden seien, und fragte sie, ob sie nicht Lust habe, heut auch hinauszufahren. Sie schien nicht sehr dafür gestimmt zu sein, vermutlich aus Rücksicht auf Fu und Tsi, auf welche es ihr Vater wahrscheinlich wieder abgesehen hatte; aber sie war gewöhnt, sich seinen Wünschen zu fügen, und so beschlossen sie, seinen Gedanken auszuführen und gleich nach Tisch und trotz der dann großen Hitze hinauszufahren.
Die üble Laune Mr. Wallers schien durch diese Fügsamkeit der Tochter gehoben worden zu sein. Er begann, gesprächiger zu werden, und nun, wo ich meine Aufmerksamkeit nicht zu teilen brauchte wie gestern, fiel mir an ihm ein eigentümliches, nervöses, ich möchte fast sagen ängstliches Springen von einer Idee auf eine andere, ihr völlig fremde, auf. Es war, als ob sich seine Psyche auf der Flucht vor einer anderen, aber auch in ihm lebenden befinde. Das war ein ruheloses Haschen und Jagen von einem Gegenstand zum andern. Er erwähnte seine verstorbene Frau, die er sehr liebgehabt zu haben schien, auffällig oft und unterließ es natürlich nicht, auch von seiner zukünftigen Missionstätigkeit zu sprechen. Als ihn das mit unfehlbarer Sicherheit auf die einzustürzenden Säulen und Tempel brachte, fiel ihm die Tochter in die Rede. Sie griff in die Tasche, zog ein zusammengefaltetes Papier heraus und sagte:
„Ich habe dir etwas mitzuteilen, was hierauf Bezug hat, lieber Vater. Du sagst, daß alles, was an eine andere Verehrung als unseres christlichen Gottes erinnere, fallen müsse, und magst vielleicht recht haben. Mir ist, wie du weißt, dieser Gedanke als zu streng erschienen, denn ich halte diesen Dienst für das ganz natürliche und noch unbewußte Lallen der Menschheit in ihrem frühesten Kindesalter. Nun habe ich hier einige Zeilen, die sich in ganz eigener Art und Weise mit dieser unserer Streitfrage beschäftigen.“
„Wer hat sie geschrieben?“
„Das weiß ich nicht.“
„Also wohl gedruckt? Ein Blatt aus einem Buch?“
„Nein. Es ist geschrieben; eine vierzeilige Strophe, welche ich für den Anfang eines Gedichtes halte.“
„Du mußt doch wissen, von wem du sie hast!“
„Vom Wind!“ lachte sie mit ihrer lieben, tiefen Stimme, indem sie das Blatt hoch emporhob und die Bewegungen nachahmte, mit denen ihr das Papier zugeflogen war. „Als ich vorhin fortging, brachte er es mir zugetrieben und legte es mir fast gerad vor die Füße hin. Ich hob es auf, da es so rein und sauber war, und las die Zeilen, welche darauf stehen. Denke dir meine Verwunderung, als ich sah, daß sie sich gerad mit deinem Hauptthema beschäftigen. Willst du sie hören?“
Er nickte und sie las:
„Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden,
Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden!“
Sie hatte langsam und so gelesen, daß man hörte, ihr Herz stimme diesen Worten bei. Dann blickte sie ihren Vater fragend an. Wenn ich der Ansicht gewesen war, daß er aufbrausen werde, so hatte ich mich geirrt. Er saß still,
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