31 - Und Friede auf Erden
Waller hatte recht. Versteht Ihr mich?“
„Ja.“
„Nun, was meine ich?“
„Das stille, warme Licht der Humanität, von dem er sprach.“
„Ja, allerdings. Wir Christen bemühen uns allzuviel, in die Ferne zu glänzen; wie aber steht es mit unserm helfenden, rettenden Licht daheim, in der Nähe? Hier, da an diesem Berg, hat sich das flammende Kreuz nun aufgelöst in die Zeichen der leiblichen, geistigen und ethischen Werktätigkeit des menschlichen Lebens. Wir sehen es ganz deutlich, wie diese Tätigkeit von den untenliegenden Wirtschaftsgebäuden emporsteigt bis zur Höhe, wo die Kapelle den marmornsten Fleiß mit Gottes Segen krönt. Und quer, mit diesem Fleiß sich kreuzend, sieht man die Menschenliebe Häuser bauen, die wir erst kennenlernen müssen, bevor wir sagen dürfen, daß wir daheim im Abendland humaner sind als alle, die im Morgenland wohnen! – Was ist's, Charley? Warum schaut Ihr mich so an? So verwundert?“
„Was ist das plötzlich von Euch für eine Sprache, Sir? Woher kommt Euch diese Ausdrucksweise für so ganz ungewöhnliche Gedanken?“ fragte ich.
„Das wißt Ihr nicht? Das kommt davon, daß ich jetzt mit Chinesen verkehre; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Und angefangen hat es, als ich Euren Sejjid Omar kennenlernte. Charley, heut früh, als Ihr Euer Zimmer noch nicht verlassen hattet, wollte ich einen Morgenspaziergang machen und traf auf Tsi, der mich mit zu sich nahm, um mir verschiedenes zu zeigen. Da gab es unter anderem auch ein zweibändiges Werk über China, von einem Europäer geschrieben, der ein Zeitungsgründer ist und Inhaber mehrerer Orden. Was schreibt dieser Mann über die Chinesen? Daß sie Menschenfresser seien! Die größten Leckerbissen der Chinesen seien das Herz und die Leber eines Menschen, dem man sie lebendig aus dem Leib schneide! Dabei behauptet ganz derselbe Verfasser, daß die Chinesen einen ganz besonderen und stark eingefleischten Abscheu vor dem Sezieren einer Leiche haben, ja, nicht einmal zugeben, daß man bei Krankheiten oder Unglücksfällen das eine oder andere Glied amputiert, weil man dadurch gegen die Vorschriften ihrer Religion verstoße! Und nämlich: Dieses Werk soll die Frucht von zwanzigjährigen, ‚vertieften‘ Studien sein! Ich sage Euch: Selbst wenn ich noch der alte Feind der gelben Rasse gewesen wäre, das, was ich da gelesen habe, hätte mich kuriert, auf der Stelle kuriert! Denn es zeigt, wie leichtsinnig und gewissenlos der Kaukasier über die Andersgefärbten urteilt und für wie dumm wir Christen von unsern lieben Brüdern gehalten werden, daß Sie sich ganz unbesorgt den ethnologischen Jux gestatten können, unsere geographische Wissenschaft mit chinesischen Kannibalen zu bevölkern! Und das wird gedruckt! Bei uns in England sogar! In Deutschland höchstwahrscheinlich auch! – – – Werfen wir das weg, und nehmen wir etwas anderes! Was sind das für riesenhafte Bäume, die man jetzt zerstreut hier stehen sieht? Die müssen doch über tausendjährig sein!“
„Das sind Gingkobäume, die allerdings uralt werden. Man ißt den Kern ihrer Nüsse.“
„Und wofür haltet Ihr die andern Giganten, aus denen dort der ganze Wald besteht?“
„Für chinesische Spießtannen, die ganz außerordentlich nutzbar sind. Die passen hierher auf diesen Boden: steinerne Pfeiler, von der Urgewalt aus dem Innern der Erde emporgetrieben, und auf ihnen diese kraftstrotzenden, reckenhaften Bäume, uralt wie die Ahnen derer, die heut unter ihnen wandeln! Schaut man zu ihnen auf, so hat man das Gefühl, als wachse man selbst auch, im tiefen Innern nämlich. Was aus diesem, dem menschlichen Innern emporgetrieben wird, hat in der Höhe ebenso auch gewaltige Organismen zu tragen, in deren Schatten die Gedanken der kleineren Geschöpfe jahrtausendelang zu wandeln haben werden. Wer werden diese Titanen sein? Ob Menschen? Oder ob Geister?“
Er war still, ich auch. Wer kann solche Fragen beantworten? Wir Menschen jedenfalls nicht! Oder doch? Dann jedenfalls nicht heut, sondern später, nach Jahrhunderten, Jahrtausenden! Oder doch schon jetzt – – –? Wenn wir wollen – – – und wenn wir glauben!
Bald sahen wir, daß ein Reiter uns entgegenkam. John Raffley war es. Das Gebiet, auf dem wir uns jetzt nun befanden, war sein besonderes, und darum stellte er sich ein, um uns hier zu begrüßen. Er wußte bereits alles, was wir gestern über die Fan-Fan erfahren hatten, denn Fu hatte es ihm telefonisch mitgeteilt und ihm auch gesagt,
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