31 - Und Friede auf Erden
in welcher Weise dagegen aufzutreten sei. Es war ihm also wohl bekannt, daß der ‚große Tag der Shen‘ nicht morgen, sondern erst später gefeiert werde, aber er hatte trotzdem alle Vorbereitungen für morgen treffen lassen. Darum sahen wir überall, wohin wir kamen, die mit Fahnen, Flaggen, Wimpeln, Girlanden, Kränzen und Blumen geschmückten Häuser, Gärten und Wege festlich aus.
Raffley-Castle bestand aus einem fast vollständig neu angelegten, großen Dorf und dem eigentlichen Schloß. Die Wirtschaftsgebäude des letzteren lagen unten am Fuß des Berges. Sie wurden isoliert durch einen Halbring von Gärten, auf welchen dann die Häuser des Ortes folgten. Außerhalb dieser lagen zunächst die Felder, dann saftig grüne, wohlbewässerte Wiesen, und endlich kam der hohe, feierlich stille Spießtannenwald, den der Governor erwähnt hatte. Durch diesen Wald ritten wir jetzt. Als uns der Weg aus ihn herausgeführt hatte, ließ unser alter Governor einen lauten Ruf der freudigsten Überraschung hören.
„Raffley-Castle! Ganz genau mein liebes, liebes, einzig schönes Raffley-Castle!“ jubelte er. „Und zwar nicht nur so schön, sondern noch viel, viel schöner! Wie eine schottische Schloßfrau, die sich ganz unerwartet in eine morgenländische Fee verwandelt hat! Nicht grau wie daheim, sondern weiß, blütenweiß, oder wie frisch gefallener Schnee! Keine Ecke fehlt, kein Erker und kein Türmchen. Alle Türen sind da, alle Fenster, alle Schornsteine und sogar auch alle Wetterfahnen! John, John, komm her; ich muß dich küssen!“
Er drängte sein Pferd an dasjenige seines Neffen, zog diesen zu sich herüber und gab ihm etwas, was für die zartere Bezeichnung ‚Kuß‘ eigentlich wohl ein wenig zu kräftig klang. Auch John schien dieser meiner Ansicht zu sein, denn er gab ihm ganz denselben ‚kiss‘ sofort, auf der Stelle, wieder. Übrigens, der ‚Uncle‘ hatte recht; der Anblick dieses in Marmor so getreu wiedergegebenen Castle war einzig in seiner Art, weil die übrigen Gebäude alle einen ganz anderen, fast möchte ich sagen, ihm widersprechenden Stil besaßen. Bei ihnen war zwischen dem Unter- und dem eigentlichen Bau das chinesische Verhältnis beibehalten, aber die Dächer besaßen nicht die gewöhnliche, drückende Schwere; sie beschützten zwar, aber sie erlaubten sich nicht, zu belasten.
Nun ging es zwischen den Wiesen und den Feldern hinüber in das Dorf. Die Bewohner desselben wußten von unserem Kommen; aber es gab nicht jenes Herandrängen, Sichhinstellen, Gaffen und Starren, welches so ungemein belästigt. Man grüßte uns, als ob man uns schon kenne, und sah und lief nicht hinter uns her wie hinter blauen Wundern.
Wie reinlich, wie sauber das alles war! Die Häuser wie die Menschen! Auf den Wegen gab es keine Spur von Schmutz, nicht einmal Staub, denn überall floß Wasser, ihn zu löschen. Die Straße war makadamisiert und außerordentlich wohl gepflegt. Sie leitete aus dem Dorf nach den herrschaftlichen Meiereigebäuden und dann in bequemen Serpentinen bis zur höchsten Höhe empor. Jede neue dieser Windungen gab eine andere Aussicht und ein schöneres Bild. So ritten wir nach oben, immer an hellweißen Gebäuden vorüber, welche von weitem den Stamm des Kreuzes bildeten, bis wir das eigentliche Schloß erreichten, zu dessen Tor eine kühn geschwungene Brücke über die tief ausgewaschene Schlucht eines fallenden Wassers führte.
„Das geht zum ersten Hof; der ist für die Knappen und für die Pferde“, sagte der Governor. „Dann folgt der zweite Hof. Der war für die Turniere. Und gegenüber der breiten Treppe steht, achteckig eingerahmt, der große Wasserbrunnen.“
Er sprang vom Pferd, übergab es einem der herbeieilenden Diener und ging mit raschen Schritten über diesen vorderen Hof hinweg. Wir andern taten so wie er, und folgten ihm, als er hinter dem zweiten Tor verschwand. Als ich dieses erreichte, sah ich ihn an dem Brunnen stehen.
„Es ist wunderbar, Charley, geradezu wunderbar“, rief er mir zu. „Er ist da; er ist da; mit allen seinen acht Ecken! Und wenn ich da die Treppe hinaufgehe, so komme ich direkt zu – – –“
„Direkt zu mir, zu mir, mein lieber Onkel!“ klang eine weibliche Stimme von oben herab, wo über der Treppentür ein steinerner Balkon mit durchbrochener Brüstung ragte. Da stand Yin, weiß, eine Rose im Haar und einen kleinen Veilchenstrauß an der Brust, genau so, wie sie drüben in Ocama auf sein Zimmer gekommen
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