31 - Und Friede auf Erden
hin errötend. „Blamiere mich nicht! Ich bitte ihr das noch ganz besonders ab.“
„Tu es! Du hast ihr nur dieses eine Gespenst abzubitten – dich; ich aber leider alle, alle, die hier hängen. Und sie verzeiht sie mir, diese Schatten, diese Schemen in schwarzer Kreide, von denen keiner, keiner etwas von ihr wissen wollte. Sie, die immer Gute, die herrlichste Tochter unserer großen ‚Shen‘, hat sogar noch mehr getan. Schau sie doch an, diese einst Fleisch gewesenen, irdischen Phantome! Da hängen sie im Tode. Sind sie denn wirklich das gewesen, was du hier abgebildet siehst? Dann gib dir Mühe, stolz auf sie zu sein; ich aber, ich verzichte! Das sind die Larven, welche wir daheim verehren, die Masken, die wir uns vormachen lassen, weil wir zu dumm, zu albern sind, sie zu durchschauen und die Wahrheit zu entdecken. Auch ich war so ein Tropf, der an Skelette, an Gerippe glaubte, bis Yin in diese Leichenkammer trat und meine Hand ergriff, um mir zu zeigen, daß die Toten leben. Sie mag auch dir es zeigen. Öffne!“
„Öffnen? Wen, was?“
„Dich selbst!“
„Mich? Mich selbst?“
„Natürlich! Wer seine eigene Larve durchschauen und dann sich selbst kennenlernen will, der muß zu erfahren suchen, was hinter ihr steckt.“
Er deutete nach dem Bild. Der Richtung seiner Hand folgend, bemerkten wir am Rahmen eine Klinke und auf der andern Seite zwei Angeln. Das Bild war eine Tür. Da öffnete der Governor. Eine Fülle von Licht flutete zu uns in den düsteren Raum herein. Er trat hinaus. Wir folgten ihm. Was sahen wir da? Wo befanden wir uns?
In ganz genau demselben Saal mit ganz genau denselben Bildern. Kein einziges fehlte. Aber die Zwischenräume waren nicht Wand, sondern Fensterscheiben, durch welche der Glanz des lichten Tages trat. Auch diese Bilder waren von schwarzer Kreide, doch hatten sie keine Gesichter, sondern nur Köpfe – Totenköpfe. Auch den langen Mitteltisch sahen wir, doch nicht mit den Blitzphotographien, sondern es lag das uralte, berühmte Ming-Tsching (Buch des Lebens) darauf, aufgeschlagen, und in großer, weithin sichtbarer Schrift war da zu lesen: „Sie legen die Kleider ab, dann kommen sie!“ Und an diesem Tisch saß Ki, der Himmlische, der die Kraft des niemals endenden Lebens bedeutet, und winkte nach der Tür, die in der vorderen Ecke hinunter nach der Gruft der Familie führte. Da stand John Raffley, um diesen Wink zu gehorchen; er öffnete sie. Und nun strömten sie hervor, dem Licht entgegen, sie alle, die ihre Kleider, die Leiber, da unten abgelegt hatten. Teils jubelnd, jauchzend, teils still, wortlos vor lauter Seligkeit; einige aber auch zagend, zögernd, als ob sie dieser Auferstehung, an die sie nie geglaubt hatten, ganz unmöglich sogleich vollen Glauben schenken könnten. Sie quollen aus der Gruft und aus der Treppenöffnung heraus und eilten durch den Saal, mit dankenden Gebärden an Ki, dem Himmlischen, vorüber, um durch die offene Tür zu verschwinden, die auf der andern Seite hinaus in den Garten und dann in das Leben führte.
Welch eine unbeschreiblich packende, beinahe überwältigende Szene! Welche Freude, welches Entzücken, welche Wonne in jedem Zug der Gesichter! Und sonderbar: Das waren nicht mehr Gesichtszüge von sterblichen Personen; das waren nicht mehr die scharfen Linien und die festgezeichneten Konturen, welche die Körperlichkeit mit sich bringt; und doch besaß jeder und jede dieser Verwandelten die größte Ähnlichkeit mit dem korrespondierenden Bild im ersten Ahnensaal! Es gab unter ihnen nur einen einzigen, der nicht hinaus nach der Freiheit strebte, denn er hatte ja die Gruft noch gar nicht kennengelernt. Er gehörte als ein Raffley zwar zu ihnen, aber er war noch nicht ‚gestorben‘ gewesen; er zählte noch zu den ‚Lebenden‘. Er stand von fern und schaute zu, mit ehrerbietigem Staunen, mit seliger Verwunderung. Ihm war, als ob er träume. Aber wohin sah er? Auf die jubelnden Seelen seiner Ahnen oder auf Ki, der die Kraft des Lebens ist? Man konnte das nicht sagen, denn in seinen weitgeöffneten Augen fehlten noch die hellen Punkte, durch welche der Blick die Beseelung und Richtung erhält, und Yin, die Meisterin, hob soeben, als wir eintraten, die Hand mit dem Pinsel, um ihnen dieses Licht zu verleihen. Also das war die Arbeit, wegen deren Vollendung sie abgehalten gewesen war, bei Tafel zu erscheinen!
Wäre ich ein Künstler, so würde ich jetzt meine Feder so recht voll von Tinte nehmen, um dieses unvergleichliche
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