31 - Und Friede auf Erden
weiterführen möchte bis hinauf zur Kapelle; ob ich damit einverstanden sei. Ich nahm das selbstverständlich an, und Yin bat ihn, wenn er mich sodann auch allein lassen wolle, doch mit hineinzugehen, um mir die Sage vom verlorenen Paradies zu erzählen. Er öffnete also die Tür und trat mit uns in das Innere.
Nun befand ich mich in einem langen, viereckigen Gebäude, dessen Decke ein Glasdach war. Die Längsseiten waren gleich lang, die Schmalseiten aber nicht. Da, wo wir hereingekommen waren, also vorn, war der Saal bedeutend breiter als hinten. Hierdurch wurde schon an sich eine ganz natürliche Perspektive gegeben, also etwas, was wir Europäer den mongolischen Künstlern einfach abzusprechen pflegen. An der vorderen und der hinteren Wand waren Gruppen schöner Pflanzen angebracht, so, was man mit dem Worte Orangerie zu bezeichnen pflegt. Diese Gewächse waren vorn sehr hohe, darunter Bambusschößlinge, die bis zur Decke reichten. Hinten waren sie bedeutend niedriger, gingen aber auch bis an das Dach, weil dieses sich von vorn nach hinten senkte. Dadurch wurde die optische Täuschung erregt, als ob das Auge in eine viel, viel größere Entfernung schaue, als in Wirklichkeit vorhanden war. Die langen Seiten zeigten zunächst nichts; sie waren mit dünnseidenen, aber undurchsichtigen Vorhängen bedeckt.
Als wir eingetreten waren, ging Yin sofort nach hinten und verschwand hinter den Pflanzen. Dort stand ein Instrument, halb ‚Si‘ und halb ‚Yangtschin‘, von der Größe einer Harfe und auch ganz ähnlicher Klangfarbe. Vorn gab es unter blühendem Gezweig einige Sitze. Pfarrer Heartman winkte nur, auf einem derselben Platz zu nehmen. Er selbst trat bis fast an die Tür zurück, von wo zwei Drähte in die Höhe und dann nach den Seiten führten. Das war zur Ausschaltung der Gewichte, welche die Vorhänge zu bewegen hatten.
Nun erklang von hinten her ein Akkord, dem einige andere folgten. Yin hatte in die Saiten gegriffen; dann war es wieder still. Und jetzt ertönte hinter mir, aus dichten Pisangs heraus und von ihnen gemildert, die laute, charakteristische Stimme des Geistlichen:
„Im Lande Ti gibt es eine heilige Sage, die von dem Himmel stammt. Sie ist vieltausend Jahre alt und lautet folgendermaßen: Als Gott, der Herr, zur Erde hinuntergestiegen war und das irdische Paradies geschaffen hatte, sprach er zu seiner ‚Shen‘: ‚Ich schenke dir dies Land der Menschlichkeit mit allen seinen Bewohnern. Solange der Menschengeist sich von dir leiten läßt und nur in der Liebe handelt, wird Friede sein und dies dein Reich nicht von der Erde schwinden. Behüte es!‘ – – – Und als der Satan sich aus der Tiefe herbeigeschlichen und die irdische Hölle geschaffen hatte, sprach er zu seiner ‚Hen‘ (Selbstsucht, Haß): ‚Ich schenke dir dies Land der Rücksichtslosigkeit mit allen seinen Teufeln. Du hast dich nicht zu fürchten, auch vor dem Paradies da drüben nicht, denn ohne seine ‚Shen‘ ist dieser Menschengeist ja weiter nichts als eben auch ein Teufel. Er wird uns schon noch kommen! Doch wache dann, daß hier in deinem Reich nie irgendwer von Nächstenliebe rede! Man sagt, daß in zukünftiger Zeit die ‚Shen‘ vor Gottes eigenem Tor ermordet werde; dann aber komme er selbst, der Herr, in menschlicher Gestalt zur Erde nieder, um seine ‚Shen‘ vom Tode aufzuwecken und alles, was da lebt, sogar auch meine Teufel, zur Seligkeit ins Paradies zurückzuführen. Die Zeichen seines Nahens sind gegeben, sobald seine Boten hier in meiner Erdenhölle aufzutauchen und von der Nächstenliebe zu lehren und zu predigen wagen. Vernichte jeden, der das tut, sonst bist du selbst verloren!“
Die Saiten hatten geschwiegen, während er sprach. Nun rauschte eine Folge von Akkorden durch den Saal, um sich in einzelnen Tönen aufzulösen und hierauf wieder still zu sein. Dann fuhr er fort:
„Der Menschengeist ging durch das Paradies und lernte dessen Seligkeiten kennen. Er wuchs dabei empor zur Riesengröße und konnte endlich gar, wenn er am Tor stand, hinüberschauen in das Reich des Bösen. Da sah er heimlich, wie die ‚Hen‘ regierte, und das gefiel ihm wohl. Sie war die Königin, die Oberpriesterin der Hölle; was aber war denn er? Sie gab Gesetze für den Staat; sie richtete; sie strafte, wie es ihr wohlgefiel, und fragte vorher nicht einmal den Teufel! Er aber mußte als Beherrscher seines Paradieses eines jeden armen Teufels Diener sein und sich von ‚Shen‘ zu jeder Zeit und bei fast allem,
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