31 - Und Friede auf Erden
richtig hält, und so hat er das vollständig nichtssagende und inhaltslose Wort Zufall erfunden, mit welchem er zwar seine Ohnmacht eingesteht, weil er nicht anders kann, aber auch keine ihn beherrschende und bewußt handelnde Potenz anerkennt. Mein Leben ist sehr reich an solchen sogenannten Zufällen, welche sich später als für mich außerordentlich wichtig erwiesen, und wenn ich dann auf sie zurückblickte, so entdeckte ich, daß sie mit einer logischen Folgerichtigkeit an mich herangetreten waren, die mich als denkenden Menschen zwang, sie nicht einem willenlosen, blinden Ungefähr, sondern einer außerhalb mir und jenseits dieser Tatsachen existierenden, unendlichen Güte zuzuschreiben. Darum war auch das Ineinandergreifen der gegenwärtigen Umstände kein Zufall für mich, sondern ich nahm diese Tatsachen mit der Überzeugung hin, daß sie sich ganz gewiß als jetzige Ursachen späterer Folgen erweisen würden.
Das, was der Professor über Waller gesagt hatte, erklärte mir alles, was mir an dem letzteren bisher unverständlich gewesen war. Der Missionar besaß nicht das wahre, echte, allgemeine, sondern ein ganz besonderes persönliches Christentum, welchem gerade deshalb, weil es ein individuelles, durch scharfe, psychologische Konturen engbegrenztes war, die Hauptsache, nämlich die Nächstenliebe fehlte, ohne die es ja gerade das nicht geben kann, was das Christentum der Menschheit bringen soll, nämlich die Erlösung. Waller hatte die Vokation zum Glaubensboten sich selbst erteilt, ohne dazu berufen und geeignet zu sein, und die Lehren Christi ebensowenig begriffen wie die Unklugheit der Forderung, daß jeder Andersdenkende weiter nichts zu sagen habe als: „Vergib mir nur, du einzig Auserwählter, daß ich auch vorhanden bin!“ Wer sich in dieser Weise mit einer so hohen Mauer umgibt, daß er sie selbst nicht übersteigen kann, der darf nicht erwarten, daß andere sich die Mühe machen werden, über sie hinweg zu ihm zu kommen. Wer sich mit solcher Ostentation abschließt, wird abgeschlossen bleiben!
Nun wußte ich, wie das Notizbuch auf die Straße des Pettah gekommen war. Es hatte in der Brusttasche gesteckt und war während seines Sturzes von der Rikscha herausgerutscht. Wie bequem für mich, daß er gerade neben mir wohnte! Ich konnte es ihm unbemerkt wieder in die Tasche stecken und hatte gar nicht nötig, zu diesem Zweck zu versuchen, über den Söller in sein Zimmer zu gelangen. Die Dienerschaft pflegte nämlich, sobald ein Gast seinen Raum verlassen hatte, die Korridortür desselben mit Hilfe einer besonderen Vorrichtung so halboffen einzuhaken, daß die Luft hindurchstrich und das Zimmer kühlte. Auf diesen Umstand rechnete ich. Ich wartete, bis er mit seinem Besuch zum Essen hinuntergegangen war; dann klingelte ich, um mir das Diner heraufbringen zu lassen. Meine Singhalesen rannten alle beide fort, um für gleichen Dienst dann gleiches Trinkgeld zu bekommen, und ich war also nun unbeobachtet. Ich trat hinaus auf den Korridor, auf dem sich jetzt niemand befand, hakte die Nachbartür aus und sah beim Schein des in dem Hotel gebräuchlichen, im Zimmer brennenden Windlichtes das weiße Jackett am Nagel hängen. Es genügten drei Schritte; ich steckte das Notizbuch in die Brusttasche, eilte hinaus, hakte die Tür wieder ein und kehrte in meine Stube zurück. Niemand hatte etwas gesehen.
Als der Professor nach Tisch wieder heraufkam, war er allein. Er ging einige Male hin und her; dann wurde es still. Er schrieb wahrscheinlich. Ich vermied jedes Geräusch, damit er glauben möge, daß er unbeobachtet sei. Am nächsten Vormittag hörte ich ihn abreisen. Ich ließ mir die Zimmerliste geben und las: Garden, Professor, Amerika. Es war so eigentümlich, fast als sei ein lieber Bekannter von mir fortgegangen. Seine Ansichten waren zwar nicht ganz die meinigen gewesen, ihnen aber doch sehr nahe verwandt, und geistige oder seelische Verwandtschaft ist ein Band, welches nie zerreißt, auch wenn man es nicht pflegt.
In den nächsten Tagen unternahm ich Ausflüge zu Land und zu Wasser, teils um Erinnerungen aufzufrischen, teils auch um neue hinzuzufügen. Sie waren alle hochinteressant; hier aber habe ich nur einen von ihnen zu erwähnen: Ich fuhr mit Sejjid Omar mit der Bahn nach Point de Galle, dem mir unvergeßlichen Schauplatz einer meiner früheren Reiseerzählungen, in welcher ich auch das dortige Hotel Madras erwähne.
Die Bahn geht längs des Meeres, oft auf einem im Wasser liegenden Damm hin,
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