315 - Apokalypse
seine Augen weit auf. Und rammte im nächsten Moment Rulfan mit brachialer Gewalt. Der Albino, auf eine solche Attacke nicht vorbereitet, taumelte zurück – direkt auf die Eisspalte zu!
Schon im nächsten Augenblick verlor er den Boden unter den Füßen. Er schrie auf, als er nach unten wegrutschte. Das Schneetreiben verschwand, machte einer blauweißen Eiswand direkt vor seinen Augen Platz. Instinktiv suchte er Halt, erwischte den Rand des Abbruchs.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Rulfan hatte das Gefühl, sein Schultergelenk würde ausgekugelt. Aber er fiel nicht mehr. Krampfhaft klammerte sich seine behandschuhte Rechte an den Spaltenrand. Den Schmerz im Brustkorb, den er durch den dumpfen Schlag auf die Rippen beim Aufprall erlitten hatte, versuchte er ebenfalls so gut es ging zu ignorieren.
Ein weiterer Schrei hallte dumpf durch den Sturm.
Aruula!
Ein seltsames Geräusch war zu hören. Dann flog etwas neben Rulfan in die Tiefe. Ein sauber abgetrennter Kopf mit weit aufgerissenen Augen, rotbraunem Haar und einem roten Streifen am Halsstumpf.
Der Albino stöhnte entsetzt. Jetzt war die Barbarin endgültig durchgedreht. Aber er brauchte ihre Hilfe.
»Aruuulaaaa!«
Er erwartete, sie über sich auftauchen zu sehen, während er mit der linken Hand nach oben tastete und sie ebenfalls ins Eis krallte.
Aber die Kriegerin kam nicht. Nicht in den nächsten Sekunden, nicht in einer Minute.
»Scheiße!«, brüllte Rulfan seinen Frust und seine Angst heraus. Er spürte, dass er sich nicht mehr lange würde halten können...
***
Canduly Castle
» Hallo Myrial«, sagte der dicke Mann, in dessen braunem Vollbart noch die Eiskristalle glitzerten. »Schon lange nicht mehr gesehen. Ich freue mich.«
»Willkommen auf Canduly Castle, Cris.« Die Burgherrin strahlte und umarmte ihn. Es sah ein wenig wie Sumoringen aus. »Danke, dass du trotz des schlechten Wetters gekommen bist. Wie war die Fahrt?«
Cris Crump, einer der begnadetsten Heiler in diesen Breiten und persönlicher Leibarzt von Jed Stuart, grinste. »Welcher Mann könnte schon widerstehen, wenn du ihn rufst? Ich habe den Schneebuggy genommen, damit war die Fahrt kein Problem. Und jetzt habe ich Lust auf eines deiner sensationellen Wakudasteeks, am besten mit gebratenen Tofanen. Gibt das die Küche her? Ah, bevor ich’s vergesse: Wie geht’s unserem kleinen Patienten?«
Myrials Gesicht verfinsterte sich etwas. »Juefaan ist jetzt schon über einen Tag lang bewusstlos. Der arme Junge wälzt sich im Bett hin und her, scheint schwere Albträume zu haben. Aber er wacht einfach nicht auf. Wir haben ihn versorgt, so gut wir konnten.«
Cris Crump zupfte sich ein paar Eiskristalle aus seinem Bart und den braunen Wuschelhaaren. »Gut. Dann schaue ich gleich mal nach ihm, während du das Steek in die Pfanne haust. Wo liegt er?«
Der Heiler hatte eine große Tasche mit Hunderten von getrockneten Pflanzenblättern und bereits fertigen Salben bei sich. Kurzatmig stieg er die Treppen hoch, schob dann seine hundertvierundfünfzig Kilo in Juefaans Zimmer und setzte sich keuchend zu ihm.
Der Junge lag schweißüberströmt auf seinem Lager, brabbelte wirres Zeug von Tod, Verderben, Weltuntergang und Streiten vor sich hin und warf sich immer wieder hin und her. Die Augen unter seinen geschlossenen Lidern rollten heftig. Im warmen Schein des Kaminfeuers, inmitten der huschenden Schatten, wirkte Rulfans Sohn fast ein wenig dämonisch auf Crump.
Er untersuchte Juefaan genauestens, ließ sich heißes Wasser kommen und mischte ihm einen fiebersenkenden Trank. Mit Hilfe zweier Bediensteter flößte er ihm das Gebräu ein. Stirnrunzelnd nahm er zur Kenntnis, dass es auch nach einer halben Stunde keinerlei Wirkung zeigte.
»Du willst mich wohl herausfordern, Kleiner, was?«, murmelte er. »Aber zuerst mal ist das Steek dran. Wer Hunger hat, kann sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, weißt du? Ich komm wieder.«
Die halbe Nacht probierte Crump verschiedene Heilmittel an Juefaan aus, ohne dass er irgendeine Veränderung seines Zustands erreicht hätte. Als sich der Heiler über sich selbst zu ärgern begann, entspannte sich der Junge urplötzlich mit einem lang gezogenen Seufzer und schlief ruhig weiter. Es musste kurz nach Mitternacht sein, draußen pfiff ein scharfer Schneesturm um die alten Mauern. Einer der stärksten, die er in den letzten Jahren erlebt hatte.
Crump nickte zufrieden. »Na also, geht doch. Dann schlaf mal schön. Und wenn das Fieber erst runter
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