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317 - Die letzten Stunden von Sodom

317 - Die letzten Stunden von Sodom

Titel: 317 - Die letzten Stunden von Sodom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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einem Schrei hoch.
    »Hauptmann?« Xij hielt verdutzt inne und schlüpfte schnell in ihren Umhang, damit er ihren Busen unter dem dünnen Hemd nicht sah.
    Melchior wälzte sich aus dem Bett und taumelte zu einem Wasserbecken hinüber. Er tauchte das Gesicht ein und prustete wie ein Walross. »Fast hätte ich das Treffen bei Sonnenaufgang vergessen«, sagte er zwischen zwei Atemzügen. »Ich muss mich sputen, sonst komme ich zu spät!«
    ***
    Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch der Himmel war schon grau und erhellte sich zusehends mehr.
    Nicht fern von der Stadtmauer quetschte sich eine Ratte durch ein enges Fenstergitter. Sie sprang zu Boden und hetzte durch die Gasse, um in einem Loch im Gebäude gegenüber zu verschwinden.
    Ein bescheiden gekleideter, beleibter Mann mit lockigem Haar, der gähnend um eine Ecke kam, blieb bei ihrem Anblick erschreckt stehen.
    Der Mann hieß Eber und war reicher, als er aussah. Er wohnte in einem dreistöckigen Haus am Marktplatz, das ihm ebenso gehörte wie sechs andere in Sodom. Dass er heute so früh auf den Beinen war, hatte einen Grund: Eber hatte einen Beruf, die keine Krisen kannte, aber schon mal verlangte, dass er ihm zu ungewöhnlichen Zeiten nachging.
    Ebers Beruf war deswegen krisenfest, weil er Sargtischler war. Gestorben wurde immer; wenn nicht aus Altersgründen, dann im Krieg oder unter dem Beil des Scharfrichters.
    Dass Eber an diesem Morgen so früh auf dem Weg zu seiner Werkstatt war, hatte einen besonderen Grund: Am Abend zuvor war ihm nach dem Zubettgehen eingefallen, dass er versäumt hatte, den Sarg zuzunageln, in dem der tags zuvor verstorbene Fleischer Nemor lag.
    Normalerweise kam Eber seinen Pflichten immer nach. Gestern aber hatte er sich mit seinem jüngsten Sohn gestritten, der sich ausgerechnet mit einer Frau vermählen wollte, die in ganz Sodom als Hure bekannt war. Die Vorstellung, dass sein Sohn ihn zum Gespött der Leute machte, hatte Eber so aufgeregt, dass er seinen Zorn in einer Schänke mit einem Liter Wein ablöschen musste. Darüber wiederum hatte er den in seinem Sarg liegenden Nemor völlig vergessen.
    Das Wissen, dass in dem Viertel rund um sein Geschäft Ratten streunten, hatte Eber keine ruhige Nacht beschert: Die Vorstellung, ein hungriges Rudel könne sich an Nemors Leichnam gütlich tun, hatte ihn früh aufstehen lassen. Und nun das: Die Ratte, die durch ein Gitter seiner Werkstatt gesprungen war, ließ seine Befürchtungen sprießen.
    Ihr Götter, steht mir bei! Wenn die Verwandten den Toten noch einmal sehen wollen, die Ratten aber ganze Arbeit geleistet hatten, war er in echten Schwierigkeiten. Eber löste den Schlüsselbund von seinem Leibriemen, und als er ihn ins Türschloss der Werkstatt schob, ging hinter den Dächern und Türmen Sodoms gerade die Sonne auf.
    Hastig stieß Eber die Tür auf. Keine Sekunde später kam ein Röcheln über seine Lippen. Der Schock traf ihn so unvorbereitet, dass er wie erstarrt dastand und einfach nur glotzte.
    Nicht auf einen von Ratten zerfressenen Leichnam in seinem Sarg.
    Nein: Auf einen von Ratten zerfressenen Leichnam, der ihm entgegen wankte!
    Hinter seinem Rücken, im Haus gegenüber, erklang der schrille Schrei einer Nachbarin, die eben ihren Nachttopf aus dem Fenster in die Gosse entleerte. Die aufgehende Sonne schickte ihre Strahlen geradewegs durch die Werkstatttür und badete den unfassbaren Anblick in goldenes Licht.
    Mit ungelenken Schritten wankte Eber eine von faustgroßen, knolligen, tentakelbewehrten Abscheulichkeiten überwucherte Gestalt entgegen, in der er nur aufgrund ihres knielangen Leichenhemdes den toten Fleischer Nemor erkannte. Er ging nicht nur aufrecht, sondern streckte auch noch die Hände nach Eber aus!
    Als der Sargtischler die riesigen Löcher im Brustkorb und die fehlende untere Gesichtshälfte des Fleischers gewahrte, brach endlich auch aus seinem Mund ein Schrei hervor.
    Es war wie ein Faustschlag in den Magen. Obwohl sich alles in Eber dagegen sträubte, stieß er den wandelnden Leichnam von sich und sprang zurück. Dabei stolperte er über die eigene Schwelle und fiel auf den Rücken, während die entsetzte Nachbarin unter Aufbietung all ihrer Kräfte das gesamte Viertel zusammenschrie.
    In der Gasse öffneten sich Fenster und Türen. Frauen und Männer schauten heraus und rieben sich die Augen. Eine Sekunde später war jeder hellwach. Nicht wenige stimmten in das Geschrei ein.
    Der lebende Tote torkelte wie eine Marionette ins Freie, stolperte über

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