317 - Die letzten Stunden von Sodom
die Füße des liegenden Sargtischlers und fiel über ihn.
Eber kreischte wie von Sinnen. Er trat und schlug um sich, konnte aber nicht verhindern, dass ein Teil des Ungeziefers, das auf dem Leichnam wimmelte, auf ihn übersprang und in sein Fleisch biss.
Eber bemühte sich nach Kräften, den Toten von sich zu wuchten, doch nun spürte er, wovor der Schock ihn bislang bewahrt hatte: Sein rechter Unterschenkel war gebrochen. Jede Bewegung, die ihn auf die Beine bringen sollte, schmerzte höllisch, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich mit den Armen unter dem Toten hervorzuziehen.
Die aus ihren Häusern strömenden Menschen schauten voller Entsetzen zu, wie Nemors Leiche sich erhob und Richtung Marktplatz wankte, während ihm das eklige Gewürm Fleischfetzen aus Nacken, Armen und Beinen riss.
Nun stieß ein junger Gardist namens Enoch zu den Leuten. Auch er beobachtete zunächst fassungslos, wie sich das Gekröse auf Nemor ausbreitete. Doch als der zweifellos tote Fleischer schwankend auf ihn zuhielt, zückte Enoch seinen Säbel und köpfte den Leichnam mit einem festen Hieb.
Nemors Schädel fiel in den Staub und rollte zum Grausen der Zuschauer wie ein Kohlkopf durch die Gasse. Doch das Grauen nahm kein Ende – als die Leute erkennen mussten, dass der wandelnde Leichnam seinen Weg auch ohne Kopf fortsetzte.
Enoch wich fluchend zurück. Der kopflose Nemor folgte ihm mit ausgestreckten Armen. Das panische Geschrei in der Gasse wurde noch lauter. Dann stürzten zwei Männer herbei, mit Eimern voller Öl. Sie übergossen den Toten damit, und ein dritter Mann steckte ihn mit einer Fackel in Brand.
Die an Nemor fressenden Monstrositäten fiepten und zappelten, fielen zu Boden und gruben sich ins Erdreich ein. Andere zerplatzten mit einem lauten Knall.
Nemors Knie knickten ein. Er fiel der Länge nach hin. Das Feuer breitete sich schnell auf seinem ganzen Körper aus und verzehrte ihn.
Jemand rief Ebers Namen. Man hielt nach dem Sargtischler Ausschau, doch er war im Zwielicht, das noch zwischen den engen Gassen hing, verschwunden. Enoch und die Männer, die Nemor in Brand gesteckt hatten, folgten Ebers Spuren. Nach dreißig Schritten endeten sie – als wäre der Tischler aufgestanden und davon spaziert.
»Bei den Göttern, das ist doch nicht möglich«, sagte Enoch mit gefurchter Stirn.
»Sein rechtes Bein war gebrochen, ich hab’s genau gesehen«, sagte der Mann, der als Jakob der Hebräer bekannt war. »Er konnte ja nicht mal vom Boden aufstehen. Mit dem gebrochenen Bein kann er unmöglich gelaufen sein.«
»Vielleicht hat ihm jemand eine Tür geöffnet und ins Haus geholt«, mutmaßte Enoch. Er schaute sich um und klopfte an die Türen, doch niemand hatte Eber ins Haus gelassen. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
»Habt ihr das Ungeziefer nicht gesehen, das an ihm hing?«, rief eine Frau. »So wie er aussah, hätte ihn doch niemand eingelassen!«
Der Gardist nickte. Nur ein Narr hätte sich der Wahrheit ihrer Worte verschlossen.
»Vielleicht hat er sich durch einen Torweg geschleppt und liegt auf einem Hinterhof«, sagte Moische der Feigling. »Da solltet ihr ihn suchen.«
»Ihr?« Enoch schaute ihn an.
»Ja, ihr! Ihr von der Garde! Wer sonst? Zahlen wir dem König etwa den Zehnten, damit ihr in der Stadt rumstolziert und euch wichtig macht, oder damit ihr in unsicheren Zeiten den Säbel zieht?«
»Gegen Dämonenbrut?«
Moische der Feigling zuckte zusammen. »Dämonen?«
Enoch nickte ernst. »Wie soll man es sonst erklären, wenn ein Mensch, den die Brut schon halb aufgefressen hat, von den Toten aufersteht und sogar ohne Kopf noch herumläuft?«
Moische erbleichte. Er sah aus als würde er sich gleich übergeben.
Inzwischen hatten sich etliche Männer, Frauen und abenteuerlustige Halbwüchsige mit Fackeln versammelt. Sie leuchteten in alle Ecken und Hinterhöfe, um das Ungeziefer, von dem geredet wurde, aufzuspüren. Da die Menschen gern zu Übertreibungen neigten, waren die Tentakelwesen inzwischen angeblich so groß wie Brotlaibe.
Etwa zehn Männer mit Säbeln, Äxten und Knüppeln standen vor Ebers Werkstatt und lugten hinein. Doch so neugierig sie auch waren, niemand wagte das Haus zu betreten. Das über allem schwebende Entsetzen war noch immer spürbar.
»Kommt mit«, sagte Enoch zu seinen Begleitern und machte sich auf den Rückweg. Moische machte seinem Spitznamen alle Ehre und verschwand im erstbesten Haus, da es zufällig seinem Onkel gehörte.
Als Enoch an Ebers Tür
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