32 - Der Blaurote Methusalem
würden sie sich zügellos über das ganze Reich ergießen
und namenloses Unheil stiften. Es würde gebrannt, geraubt und gemordet.
Es würde eine Revolution der andern folgen, und kein friedlicher Mensch
wäre seines Lebens und seines Eigentums sicher. Darum müssen wir
Bettlerkönige haben, und darum werden dieselben von der Regierung und
allen Behörden gern und willig anerkannt.“
„So hat ein solcher T'eu ja fast eine größere Macht als ein Wang, ein Vizekönig und Regent einer ganzen, großen Provinz!“
„Allerdings. Kein Beamter, und stehe er noch so hoch und sei er noch
so mächtig, wird es wagen, einen T'eu zu beleidigen, denn dieser könnte
sich leicht an ihm rächen. Er würde sämtliche Untertanen seines
Bettlerreiches, viele Tausende, herbeirufen und mit denselben die
betreffende Provinz überschwemmen. In Peking würde man erfahren, wer
schuld daran ist, und den Vizekönig sofort absetzen, weil er Unglück
über seine Provinz gebracht und also bewiesen hat, daß er zum Regieren
unfähig ist. Ja, ein Bettlerkönig ist ein außerordentlich mächtiger
Mann. Ist es also klug, mich zu beleidigen, weil ich der Schwiegersohn
eines solchen bin?“
„Das ist sehr unvorsichtig gehandelt.“
„Ja. Ich kann mich an Wing-kan rächen. Das weiß er sehr genau, und
daher will er mir zuvorkommen und mich und meine Familie verderben.
Denn hier bei uns werden die Frauen und Kinder der Verbrecher auch
mitbestraft.“
„Das habe ich schon erfahren. Es war mir unbegreiflich, daß jemand
wegen einer einfachen Beleidigung ein so schweres Verbrechen, wie der
Diebstahl eines Gottes ist, nur um Rache zu üben, wagen kann. Jetzt
sehe ich klarer. Wing-kan fürchtet Ihre Rache und noch viel mehr
diejenige Ihres Schwiegervaters, des T'eu. Darum will er Sie
unschädlich machen.“
„Und den T'eu mit, welchen die Strafe für mein Verbrechen auch
treffen würde, weil er der Vater meines Weibes ist. Selbst ein
Bettlerkönig darf nicht, so große Macht er auch besitzt, ein Verbrechen
begehen. Tut er das, so verfällt er dem Gesetz wie jeder andre und hat
keine Gnade oder Hilfe zu erwarten, weil alle seine Untertanen sich von
ihm lossagen. Das ist die Berechnung meines Nachbars, wenn die Sache
sich wirklich so verhält, wie Sie es sagen.“
„Es ist genauso. Um Ihnen das zu beweisen, will ich Ihnen erzählen, wie ich den Anschlag erfahren habe.“
Er berichtete ihm alles. Der Juwelier sah sich in einer
außerordentlich gefährlichen Lage. Er lief in der Stube hin und her; er
warf mit den Armen um sich; er riß und zerrte an seinem Zopf. Er war
ein braver und wackerer Mann, welchem der Methusalem die vollste
Teilnahme schenkte.
„Was soll ich tun, was soll ich tun?“ fragte er.
„Das müssen Sie am besten wissen!“
„Soll ich schnell zum Sing-kuan gehen und Anzeige machen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil jetzt die Tat noch nicht geschehen ist und Sie Ihrem Nachbar also nichts beweisen können.“
„So meinen Sie, daß ich ruhig zuwarten soll, bis er den Gott in meinem Garten vergräbt?“
„Ja.“
„Das ist gefährlich, außerordentlich gefährlich.“
„Gar nicht!“
„O doch! Sie kennen die Gesetze unseres Landes nicht. Wehe dem, auf
dessen Grund und Boden oder auch nur in dessen Nähe ein Verbrechen
geschieht! Er wird ganz unerbittlich mitbestraft. Kein Chinese wird zum
Beispiel einem Ertrinkenden beispringen, um ihm das Leben zu retten.“
„Nicht? Das wäre ja schrecklich!“
„Und doch ist es so. Wenn der Mann dennoch ertrinkt, so würde man
den Retter als Mörder festnehmen. Wenn jemand, um sich an mir zu
rächen, sich vor meiner Tür entleibt, so bin ich der Schuldige und
werde bestraft. Wenn mein Nachbar das Bild des Gottes bei mir vergräbt,
so mag ich tausendmal beweisen können, daß er selbst es gestohlen und
in meinen Garten versenkt hat; es ist bei mir gefunden worden und ich
muß die Strafe erleiden.“
„Das ist freilich schlimm. Die Sache steht also folgendermaßen:
Verhüten Sie jetzt die Tat, mit welcher man Sie bedroht, so können Sie
dem Nachbar nichts beweisen, und er wird sich eine andre Art der Rache
aussinnen, gegen welche Sie sich dann nicht wehren können. Lassen Sie
die Tat aber geschehen, so fallen Sie mit ins Verderben.“
„Ja, so ist es. Ich glaube jedes Wort, was Sie mir gesagt haben; ich
bin überzeugt, daß Wing-kan diese Absicht hegt; aber ich sehe kein
Mittel, den Schlag von mir und meiner Familie abzuwenden. Den Dieb, mit
welchem Wing-kan das
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