32 - Der Blaurote Methusalem
auch tun; darauf kannst du dich verlassen! Hast du dir die Stelle gemerkt, an welcher das Loch gegraben worden ist?“
„Ganz genau.“
„Und kannst du es mir zeigen?“
„Ja.“
„Du wirst mich augenblicklich zu Hu-tsin begleiten. Aber wehe dir, wenn ich dich bei einer Lüge ertappe: Wehe dir, wenn du dir diese Geschichte nur ausgesonnen hast, um deinem Nachbar Schaden zu bereiten! Du hättest die Summe der Qualen von zehn Menschen, welche zu Tode gemartert werden, zu erleiden!“
Wing-kan verbeugte sich und antwortete im zuversichtlichsten Ton: „Ich bin zu allem bereit. Mein Gewissen ist rein und mein Herz gerecht. Meine Seele sträubt sich dagegen, daß der Heuchler gerade durch mich entlarvt werden soll, aber ich folge dem Gebot der hohen Religion.“
„So warte hier; ich komme gleich zurück!“
Er wollte fort, kehrte aber unter der Tür wieder um, kam auf den Methusalem zu und fragte ihn: „Sie sind ein großer Gelehrter Ihres Landes. Haben Sie auch die Gesetze der Gerechtigkeit studiert?“
„Ja.“
„So sollen Sie erfahren, wie man es bei uns versteht, den Verbrecher zu ergreifen und zu bestrafen. Wollen Sie mich jetzt begleiten?“
Nichts konnte dem Methusalem willkommener sein als diese Frage. Als er sie bejahend beantwortete, bestimmte der Tong-tschi: „Gut. Sie gehen also mit, und Ihre Gefährten ebenso. Ich werde nach Polizisten oder Soldaten senden.“
Er ging hinaus.
Der Juwelier fand erst jetzt Zeit, den Anwesenden seine Aufmerksamkeit zu schenken. Er musterte sie mit frech neugierigen Blicken, rümpfte, wohl über ihre ungewöhnliche Erscheinung, die breite Stumpfnase und trat dann zu Turnerstick, um ihn zu fragen: „Tsche-sié sing-song-tschin – Diese Leute sind wohl Schauspieler?“
‚Sing-song‘ heißt nämlich Theater, Schauspiel. Da die Schauspieler zur unehrbaren Klasse gehörten, lag in dieser Frage eine Beleidigung. Er hatte den Kapitän gefragt, wohl weil er diesen infolge seiner Kleidung für den Vornehmsten hielt. Turnerstick verstand ihn nicht und antwortete: „Willst du die Güte habeng, den Mund zu haltung, Spitzbubing! Wir habeng mit dir nichts zu schaffang.“
Der Juwelier verstand kein Wort, erkannte aber aus der abwehrenden Handbewegung des Kapitäns, daß dieser ihn abgewiesen habe, und sagte in stolzem Ton: „Tsen-kam ni yen, ni tuan-schan ye sing-song-tschin – Wie dürfte ich mit dir reden, du bist sicherlich auch ein Schauspieler!“
„Was hat er jesagt?“ fragte Gottfried von Bouillon, dem der Ausdruck, in welchem diese Worte gesprochen worden waren, nicht gefallen hatte.
„Er hält uns für Schauspieler, welche hier dem Schinder gleich geachtet werden“, antwortete Methusalem.
„Potztausend! Hätte ich mein Fagott mit da, so wollte ich ihm eine Quadrille ind Jesicht blasen, die sich jewaschen haben sollte. Soll ich ihm eins auf die Hühneraugen widmen?“
„Nein. Laßt ihn! Er ist nicht wert, daß wir ihm überhaupt antworten.“
„Dat ist wahr, und es widerstrebt meinem Standesjefühl als Wichsier, mir mit ihm zu verunreinigen. Der Löwe darf sich nicht mit dem Ijel abjeben. Lassen wir ihn also seitwärts liejen. Er wird ja sehr bald erfahren, wat war von ihm denken.“
Der Tong-tschi trat wieder herein, und bald folgten ihm mehrere bewaffnete Polizisten mit kegelförmigen Mützen. Sie sind fast die einzigen, welche noch diese von der altchinesischen Tracht übriggebliebene, von den Tataren verdrängte Kopfbedeckung tragen.
Nun wurde aufgebrochen. Unten stand ein Peloton Soldaten, mit Luntenflinten bewaffnet und auf der Brust und dem Rücken je einen schildförmigen Einsatz, auf welchem das Wort ‚Ping‘, d.i. ‚Soldat‘, zu lesen war.
Der Mandarin mußte auch diese wenigen Schritte der Würde seines Standes angemessen zurücklegen. Voran schritten vier Läufer. Dann kam er in seiner Staatssänfte, hinter ihm seine Gäste auch in Sänften, dann der Ankläger, von den Polizisten umgeben, und schließlich die Soldaten, bei denen aber von einem Gleichschritt keine Rede war. Sie hielten ihre Gewehre ganz wie es ihnen paßte und liefen dabei nach Belieben durcheinander. Vor dem Haus Hu-tsins wurde angehalten. Die Herrschaften stiegen nicht eher aus den Sänften, als bis geöffnet worden war.
Die Straße war nicht erleuchtet, und doch war es ziemlich hell, denn es befanden sich viele Leute, welche Laternen trugen, auf derselben. Zwar dürfen nur Bevorzugte aus einer Gasse in die andere; aber die Bewohner aus einer und
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