32 - Der Blaurote Methusalem
derselben Straße dürfen auch des Abends unter gewissen Umständen miteinander verkehren. Nur ist jeder einzelne angewiesen, eine Papier- oder sonstige Laterne bei sich zu tragen.
Überhaupt ist die Beaufsichtigung der Bevölkerung in China eine sehr weit durchgeführte. Es gibt Beamte, welche für eine gewisse Anzahl von Straßen und für alles, was in denselben passiert, verantwortlich sind. Unter ihnen stehen die ‚Straßenhäupter‘, deren jeder eine einzelne Straße beaufsichtigt, welche wieder in verschiedenen Abteilungen von ‚Häuserhäuptern‘ bewacht wird. Unter diesem stehen dann die Familienväter, welche alles, was in ihrer Familie geschieht, zu verantworten haben.
Wird ein Verbrechen begangen, so wird die ganze Familie des Verbrechens, das betreffende ‚Häuserhaupt‘, das ‚Straßenhaupt‘ und unter Umständen auch das Haupt des betreffenden Stadtteiles mit in Strafe gezogen.
Die Kunde, daß zwei Götter geraubt worden seien, hatte viele Leute auf die Straße gelockt, wo sie in stillen Gruppen beisammenstanden, um die entsetzliche Neuigkeit leise zu besprechen. Die Häuserhäupter standen dabei, um sorglich darüber zu wachen, daß ja weder Lärm noch Unordnung entstehe.
Hu-tsin hatte vom Methusalem genaue Anweisung erhalten, wie er sich verhalten solle. Er wußte, daß der Tong-tschi kommen werde, und hatte denselben hinter seiner verschlossenen Tür erwartet. Kaum war das Klopfen erschollen, so öffnete er dieselbe.
Er war so klug, sich zu stellen, als ob er in hohem Maß erstaunt über den Besuch des Mandarins sei, verbeugte sich bis zum Boden nieder und fragte im Ton tiefster Unterwürfigkeit nach der Veranlassung desselben.
„Du wirst es erfahren“, antwortete der Beamte. „Jetzt mach vor allen Dingen Platz und hole deine unwürdige, übelriechende Familie herbei!“
Zwei der Polizisten ergriffen den Juwelier beim Zopf und zerrten ihn hinaus. Der Mandarin begab sich beim Schein der mitgebrachten Papierlaternen nach dem Garten, wohin ihm die andern folgten.
Bald brachten die Polizisten den Mann wieder. Er hatte seine Frau, seine Kinder und Dienerschaft bei sich. Er selbst blieb in tiefgebeugter Haltung stehen; seine Angehörigen warfen sich auf die Knie nieder und blieben in dieser Stellung vor dem Beamten liegen. Dieser wandte sich im strengsten Ton an den Angeklagten: „Weißt du, weshalb wir kommen?“
„Meine große Niedrigkeit ahnt nicht, aus welchem Grund Ihr Glanz mein dunkles Haupt erleuchtet“, antwortete der Gefragte.
„Das lügst du! Standest du nicht an deiner Tür, als wir kamen?“
„Ja.“
„Was hast du da zu stehen? Dein böses Gewissen hat dich hingetrieben.“
„Ich hörte, daß viele Leute auf der Gasse seien, und wollte nachsehen, was sie da treiben. Da aber kam Ihre hohe Gerechtigkeit, um bei mir abzusteigen.“
„Ja, meine hohe Gerechtigkeit! Das hast du ganz richtig gesagt. Dieser Gerechtigkeit wirst du verfallen. Weißt du denn, weshalb sich so viele Menschen auf der Straße befinden?“
„Ich vermute es.“
„Nun?“
„Wegen den beiden Göttern, welche geraubt worden sind.“
„Woher weißt du, daß diese Tat geschehen ist?“
„Wir hörten den Ausrufer, welcher es bekanntmachte.“
„Nur daher weißt du es? Hast du es nicht schon vorher auf eine andre Weise erfahren?“
„Nein.“
„Das ist eine Lüge, für welche ich die dich treffende Strafe verschärfen werde. Du hast von dem Raub gewußt, noch bevor überhaupt ein anderer etwas davon erfuhr, denn du selbst bist der Räuber!“
Ein guter Inquirent hütet sich bekanntlich, dem Inquisiten das Verbrechen in dieser Weise an den Kopf zu sagen. Er versucht vielmehr, denselben mit einem Netz von scheinbar unwesentlichen Fragen zu umgeben, aus welchem dann, wenn die letzte Masche zugezogen ist, der Angeschuldigte nicht zu entrinnen vermag. Eine solche ins Gesicht geschleuderte Behauptung aber kann die Überführung des Verbrechens leicht zur Unmöglichkeit machen. – Hu-tsin stellte sich erschreckt und antwortete: „Was waren das für Worte! Was sagt Ihre Herrlichkeit! Ich soll es sein, welcher die Götter geraubt hat, ich, der ich der gläubigste und eifrigste Anhänger des großen und heiligen Unterrichtes bin? Welch eine Anschuldigung! Ich kann beweisen, daß ich von früh bis jetzt meinen Laden, meine Wohnung nicht verlassen habe!“
„Das kannst du beweisen, ja; aber du hast zwei Männer mit der Tat beauftragt, welche dir die geraubten Götter dann gebracht
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