32 - Der Blaurote Methusalem
niemand glauben. Wer einen Raub in die Erde versteckt, gräbt ihn nicht einige Minuten später schon wieder aus. Vielleicht hast du dich geirrt, und die Stelle ist anderswo.“
„Nein, sie ist hier; ich weiß es ganz gewiß!“
„Dann ist es erwiesen, daß du gelogen hast, um deinen ehrlichen Nachbarn zu verderben!“
„Nein, nein! Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe ganz genau gesehen, daß die Götter hier eingegraben wurden.“
„Lüge nicht! Ich kenne dich! Du bist ein Verleumder. Von Hu-tsin aber weiß jeder Mensch, daß er ein ehrlicher Mann ist!“
„Ja, der bin ich“, bemerkte der Genannte, indem er vortrat. „Ich habe bis jetzt geschwiegen, weil ich es nicht für möglich hielt, daß jemand gar so schlecht sein könne. Nun aber will ich sprechen. Ihre Gnaden wird meine Worte anhören!“
„Sprich!“ befahl der Mandarin. „Was hast du zu sagen?“
„Ich hatte heute viel gearbeitet und wollte mich, als ich den Laden schloß und es dunkel geworden war, im Garten erholen. Indem ich …“
„Du fängst ja ganz genauso an wie er“, unterbrach ihn der Mandarin. „Das sind fast dieselben Worte, welche ich von ihm hörte. Sprich weiter!“
„Indem ich still an meiner Mauer stand und die frische, reine Luft genoß, sah ich trotz der Dunkelheit zwei Männer kommen, welche eine Sänfte trugen.“
„Genauso wie er, ganz genau! Weiter!“
„Sie hielten an der Mauer seines Gartens an“, fuhr Hu-tsin fort, „nahmen zwei schwere Gegenstände aus der Sänfte und warfen dieselben zu ihm herein.“
„Das ist nicht wahr! Das ist Lüge!“ rief Wing-kan aus. „Was er erzählt, das ist an seiner eigenen Mauer und in seinem eigenen Garten geschehen!“
„Schweig!“ donnerte der Mandarin ihn an. „Ich habe deine Lügen gehört und will nun auch hören, was Hu-tsin zu sagen hat. Du antwortest nur, wenn ich frage! Wir haben hier nichts gefunden, also ist es erwiesen, daß du gelogen hast. Fahre fort, Hu-tsin!“
Der Genannte erzählte weiter: „Die beiden Männer, deren Gesichter ich nicht erkennen konnte, schafften die Sänfte zur Seite, wo sie jetzt noch stehen wird. Dann kamen sie zurück und stiegen in den Garten des Nachbars, welcher sie wohl erwartet hatte, denn ich hörte seine Stimme; er sprach mit ihnen. Dann vernahm ich das Geräusch einer Hacke oder eines Spatens. Man machte ein Loch; man wollte also etwas vergraben. Ich lauschte lange Zeit, bis das Geräusch verschollen war. Dann hörte ich einen Riegel und eine Tür gehen; Wing-kan kehrte in sein Haus zurück. Ich war überzeugt, daß nun auch die zwei Männer sich entfernen würden. Ich hörte auch, daß sie zur Mauer kamen, um über dieselbe hinauszuspringen. Da aber geschah etwas, was ich noch nie gehört habe und was mich in größten Schreck versetzte.“
„Was?“ fragte der Mandarin.
„Es ertönten zwei gewaltige Stimmen miteinander. Ich konnte nicht genau unterscheiden, ob sie aus der Luft oder aus der Erde kamen; aber ich hörte ganz deutlich die Worte: ‚Halt, zurück, ihr Buben! Ihr habt uns entweiht. Ihr hieltet uns für tote Wesen; aber wir besitzen Leben über Leben und halten euch fest, bis der Rächer kommt, um euch an der Stätte eurer Tat zu ergreifen!‘ Darauf hörte ich ein Geräusch, wie wenn jemand mit Gewalt fortgeschleppt und auf der Erde hingeschleift wird; ein kurzes, ängstliches Wimmern folgte, und dann war es still.“
„Zwei Stimmen?“ fragte der Mandarin. „So waren also außer den beiden Sänftenmännern noch andere Leute da?“
„Leute? Menschen? O Herr, das waren keine menschlichen Stimmen! Das waren entweder über- oder unterirdische Worte. So können nur Geister oder Götter sprechen. Es war entsetzlich anzuhören!“
Der Mandarin sah nachdenklich zur Erde. Er war jedenfalls überzeugt, daß Götzenbilder nicht sprechen können, aber er durfte das nicht wissen lassen; er mußte sich den Anschein geben, als ob er an solche Wunder glaube. Höchstwahrscheinlich stieg in ihm ein Verdacht gegen Hu-tsin auf, doch sagte er in salbungsvollem Ton: „Die Überirdischen sind voller Macht; was ist die Schwäche der Menschen gegen sie! Was hast du dann weiter noch gesehen oder gehört?“
„Im Garten des Nachbars keinen Laut mehr. Ich stand stumm und entsetzt. Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Dann hörte ich den Schall des Gong auf der Gasse und die laute Stimme des Ausrufers. Ich konnte aber die Worte nicht verstehen. Darum kehrte ich in das Haus zurück, um die Meinen zu fragen,
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