32 - Der Blaurote Methusalem
Schreck zuckte über das Gesicht des Wirtes.
„Herr, das nicht, nur das nicht!“ bat er.
„Warum nicht?“
„Es ist gegen die hiesige Sitte.“
„Doch nicht, denn der mächtige Tong-tschi von Kuang-tschéu-fu hat uns auch seine Gemahlin zugeführt.“
„So ist es gegen die Satzung meines Glaubens.“
„Sind Ihre Damen auch mit zum Islam übergetreten?“
„Nein.“
„Nun, so ist auch dieser Grund nicht stichhaltig. Sie haben sich bis jetzt als wirklich gastfreundlich erwiesen. Wollen Sie diesen Ruhm vernichten und uns damit beleidigen, daß Sie uns diese Bitte abschlagen?“
Der Mann antwortete nicht sogleich. Er kämpfte mit sich selbst. Dann sagte er unter einem tiefen Atemzug: „Nein, mein Gebieter, beleidigen will ich Sie nicht. Lieber entschließe ich mich, gegen die Vorschriften unsres Landes zu handeln. Ich werde also die Frauen herbeibringen.“
Er entfernte sich in das hintere Gemach.
„Das hätten Sie nicht von ihm verlangen sollen“, sagte Liang-ssi im Ton sanften, bescheidenen Vorwurfs. „Es ist ganz und gar gegen die hiesigen Gewohnheiten.“
„Das weiß ich auch sehr gut“, lächelt der Methusalem.
„Und dennoch taten Sie es?“
„Ja. Ich habe triftige Gründe dazu, denen Sie später ganz sicher Ihre Zustimmung erteilen werden.“
Diese kurze Wechselrede war in deutscher Sprache geführt und also von den anderen verstanden worden.
„Was soll denn geschehen?“ fragte Turnerstick. „Was hätten Sie nicht tun sollen?“
„Ich habe verlangt, die weiblichen Bewohner dieses Hauses zu sehen, damit wir uns bei ihnen bedanken können.“
„Und ist das hier eine Sünde? Will er sie bringen?“
„Ja.“
„Dat is sehr hübsch“, meinte der Gottfried. „Wir werden uns gegen sie natürlich als jewandte Kavaliere benehmen. Nicht wahr, Mijnheer?“
„Ja. Ook ik word haar mijne complimenten maken. Ik kan dat zeer fraai en bij uitstek maken – Ja. Auch ich werde sie bekomplimentieren. Ich kann das sehr schön und ausgezeichnet machen.“
Es dauerte längere Zeit, bevor der Chinese wiederkehrte. Die Damen mußten ja ihre besten Gewänder anlegen. Endlich trat er mit ihnen ein und stellte sich an die Seite der Tür, um ihnen Platz zu geben.
Ihre Gesichter zeigten den chinesischen Schnitt und waren nach der Sitte der besseren Stände weiß und rot geschminkt. Die Augenbrauen hatten sie mit Hilfe des Pinsels und schwarzer Farbe so verlängert, daß sie über der Nasenwurzel zusammenliefen. Das Haar war durch Kämme und viele Nadeln hoch und fast in Form eines Schmetterlings gesteckt. Das Obergewand schloß eng am Hals an und fiel in weiten Falten bis auf den Boden herab. Die Hände waren tief in den Ärmeln verborgen. Die Füße konnte man nicht sehen, aber verkrüppelt waren sie nicht, wie man aus dem Gang der Damen und ihrer Haltung ersehen konnte, obgleich sie nur wenige Schritte gemacht hatten.
Sie verneigten sich tief vor den Gästen, ohne aber ein Wort zu sagen. Trotz der Schminke erkannte man die jugendlichen Züge der Töchter. Das Gesicht der Mutter zeigte deutliche Spuren des Grams und der Sorgen.
Die Anwesenden waren alle aufgestanden. Noch bevor Degenfeld zu Wort kam, trat Turnerstick vor, verbeugte sich möglichst chevaleresk und sagte: „Myladies und Mademoiselles, wir fühleng uns außerordangtlich beglückt über ihre Erscheinung. Wir habeng gegessing und getrunkeng und sagung hiermit –“
„Ik ook, ik ook“, unterbrach ihn de Mijnheer eifrig, indem auch er sich verneigte, soweit seine Körperform dies zuließ. „Ook ik heb gegeten en gedronken.“
„Schweigen Sie und stören Sie mich nicht in meinem besten Chinesisch!“ fuhr der Kapitän ihn mißmutig an.
Er wollte fortfahren, doch diesmal war der Methusalem schneller als er, indem er rasch das Wort ergriff, natürlich in chinesischer Sprache: „Ich weiß, daß ich außerordentlich gegen die Sitte Ihrer Heimat verstoßen habe, als ich Sie zu sehen verlangte. Aber ich wollte Ihnen unsern Dank bringen und unsre Entschuldigung für die Sorgen, welche wir Ihnen bereitet haben. Außerdem aber gibt es noch einen zweiten Grund, welcher mich veranlaßt, persönlich mit Ihnen zu sprechen. Ich habe nämlich einen Brief an Sie abzugeben.“
Diese letzten Worte richtete er direkt an die Mutter, welche verwundert zu ihm aufschaute.
„Sie haben ein Recht zu zweifeln“, fuhr er fort; „aber ich sage die Wahrheit. Ich habe wirklich einen Brief aus einem fernen Land mitgebracht, welcher an Sie gerichtet
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