Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
32 - Der Blaurote Methusalem

32 - Der Blaurote Methusalem

Titel: 32 - Der Blaurote Methusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
ist.“
    „Einen Brief? Von wem?“ fragte sie.
    „Von demjenigen, welchen Sie wohl schon längst verloren glaubten.“
    Ihre Augen waren einige Zeit lang starr auf ihn gerichtet, dann stützte sie sich mit beiden Händen auf ihre Töchter und hauchte, die Wahrheit ahnend: „Von meinem – meinem Gemahl und Herrn!“
    „Ja“, antwortete der Methusalem. „Sind Sie stark genug, den Inhalt des Briefes zu hören? Bitte, setzen Sie sich!“
    Er stellte ihr seinen Stuhl hin, auf welchem sie sofort Platz nahm. Diese Höflichkeit fand schnell zwei Nachahmer, welche zeigen wollten, daß auch sie gelernt hätten, zuvorkommend gegen Damen zu sein. Turnerstick schob seinen Stuhl der einen Tochter hin und sagte: „Bitte, Fräulein, sich auch zu setzing! Lassong Sie sich angenehme Ruhe wünscheng!“
    Und der Mijnheer trug den seinigen der andern Tochter hin, indem er mit seinem süßesten Lächeln bat: „Mejuffrouw, ik bid, dat ook gij op enen stoel zitten, op mijnen stoel. Ik geef u dezen stoel zeer gaerne. – Fräulein, ich bitte, daß auch Sie auf einem Stuhl sitzen, auf meinem Stuhl. Ich gebe Ihnen diesen Stuhl sehr gern.“
    Die beiden Mädchen verstanden kein Wort von dem Gesagten, wußten aber natürlich, wie es gemeint war. Sie setzten sich zu beiden Seiten der Mutter nieder, wobei Turnerstick dem Dicken zuraunte: „Prächtiges Mädchen, wirklich! Hat mich Wort für Wort verstanden. Es scheint, daß man in diesem Haus ein ausgezeichnetes Chinesisch spricht.“
    Degenfeld hatte seine Brieftasche hervorgezogen und aus derselben ein Kuvert genommen, welches den erwähnten, von Ye-kin-li geschriebenen Brief enthielt, für den Fall, daß seine Frau gefunden wurde. Auf seinem Gesicht war der Ausdruck freudigster Genugtuung zu lesen. Da in China selbst die Frauen höherer Stände nicht schreiben und lesen können, weil sie keinen Unterricht erhalten, gab er dem Hausherrn den Brief und sagte: „Bitte, lesen Sie ihn vor!“
    Der Mann besah das Kuvert, welches unbeschrieben war, und fragte erwartungsvoll: „Das soll ich öffnen?“
    „Ja, bitte!“
    „Und es ist wirklich ein Brief darin?“
    „Gewiß!“
    „An diese Frau?“
    „Wie ich bereits sagte!“
    „Sie müssen irren, Herr.“
    „Nein; ich bin meiner Sache vollständig sicher. Hier ist ein Messer. Schneiden Sie den Umschlag auf!“
    Der Mann ergriff das Messer, fragte aber, ehe er der Aufforderung Folge leistete: „Und der Brief soll in Wahrheit von – von Ye-kin-li sein?“
    „Ganz sicher. Ich war dabei, als er ihn in den Umschlag steckte, und habe vorher sogar den Brief lesen dürfen.“
    Nun schnitt der Wirt das Kuvert auf. Während der dadurch entstehenden Pause flüsterte Jin-tsian seinen Bruder zu: „Von Ye-kin-li? Das ist doch unser Vater!“
    „Wohl nur ein Mann, der denselben Namen trägt.“
    „Aber diese Frau kommt mir so bekannt vor! Ich muß sie schon gesehen haben!“
    „Mir auch. Es ist mir ganz –“
    Er wurde unterbrochen, denn der Hausherr hatte den Brief aufgeschlagen, welcher natürlich in chinesischer Schrift und Sprache verfaßt war, und einen Blick auf die ersten Zeilen geworfen. Er rief mit lauter Stimme: „O Allmacht der Vorsehung! O Güte des Himmels! O Allah, Allah! Es ist wirklich so; dieser hohe Herr hat die Wahrheit gesagt. Soll ich lesen?“
    Er hatte diese Frage an die Frau gerichtet, welche sich in größter Aufregung befand. Sie zitterte am ganzen Körper; sie konnte kein lautes Ja hervorbringen; darum gab sie ihm nur durch ein Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen. Er las: „An Hao-keu, vom Geschlecht der Pang, aus dem Stamm Seng-ho, dem verschwundenen Weib meiner Seele und der Mutter meiner verlorenen Söhne und Töchter – – – von Ye-kin-li, dem aus Tschin Entflohenen.“
    Das war die Überschrift des Briefes. Der Vorleser kam nicht weiter; vier Schreie erschollen – von den beiden Söhnen und den zwei Töchtern. Die Mutter hätte wohl auch einen Ruf des Entzückens ausgestoßen, aber sie konnte nicht, denn sie war ohnmächtig geworden.
    Der wackere Methusalem hatte nicht daran gedacht, daß man zarten Frauen solche Nachrichten nicht so unvorbereitet geben darf. Die beiden Töchter schlangen ihre Arme um die Mutter und weinten.
    „Es kam zu rasch; es ist zu viel für sie. Kommt heraus mit ihr in euer Gemach“, sagte der Hoei-hoei.
    Er hob die Ohnmächtige in seinen Armen auf und trug sie hinaus. Die Mädchen folgten ihm. Die Söhne aber stürzten auf den Methusalem zu, und Liang-ssi fragte ihn

Weitere Kostenlose Bücher