32 - Der Blaurote Methusalem
„Weiter! Noch einmal!“
Aber obgleich der zweite Ton noch schrecklicher als der erste war, der Dicke blieb sitzen. Er zog zwar das jämmerlichste Gesicht, welches denkbar ist, hielt sich aber die Ohren zu und bewegte sich nicht.
„Will's nicht weiter wirken?“ fragte Gottfried. „Die erste Fermate hat doch jeholfen! Warum die zweite nicht? Auf, Mijnheer! Es wird schon jehen!“
„Ik kan niet; ik word sterven!“ antwortete der Dicke kopfschüttelnd.
„Laß ihn!“ rief der Methusalem, welcher mittlerweise die Leiter emporgestiegen war. „Man soll jedem Toten seine Ruhe gönnen. Möge ihm die Erde leicht werden! Wir aber haben mehr zu tun. Hier oben an Deck riecht es geradezu zum Entzücken. Ich glaube, es wird an Bord ein feines Diner abgehalten. Ich rieche Rumpsteaks mit Schmorkartoffeln; auch nach Selleriesalat duftet es. Man scheint also schon beim zweiten Gang zu sein. Komm also schnell herauf, Gottfried! Ein chinesisches Essen, das dürfen wir unmöglich versäumen!“
„Gebraden rumpvleesch?“ rief der Dicke, indem er die Hände von den Ohren nahm. „Selrisalade? Een middageten in een chijnedischen scheep? Ik word ook met eten. Ik kom ook met int scheep – Gebratenes Lendenfleisch? Selleriesalat? Ein Mittagessen in einem chinesischen Schiff? Ich werde auch mit essen. Ich komme auch mit in das Schiff!“
Was Gottfried mit seiner Oboe nicht fertiggebracht hatte, das war dem Methusalem mit seiner Ankündigung gelungen. Einem Rumpsteak konnte der Dicke nicht widerstehen. Er sprang vom Boden auf, steckte den Tornister, welcher ihm entfallen war, wieder auf die beiden Gewehrläufe, ergriff auch den Familienschirm und kletterte dann mit einer Beweglichkeit, welche ihm vorher niemand zugetraut hätte, an der Leiter empor.
Gottfried stieg hinter ihm her und rief lachend: „So erfährt man, wie tote Leichen aufjeweckt und zu Verstand jebracht werden! Hängt man diesem juten Mijnheer einen Bahnzug von sechzig Kohlenwagen hinten an und hält ihm vorn eene saftige Kotelette vor, so zieht er die Lowrys im Jalopp über den Sankt Jotthard hinweg. Es jibt eben Menschen, deren Magen jradezu allmächtig ist.“
Als er eben an Bord anlangte, reichte er dem Methusalem vor allen Dingen die Schlauchspitze hin und zündete ein Holz an, um den Tabak in Brand zu stecken. Er hielt es eben für unmöglich, daß sein Herr als ‚Nichtraucher‘ eine chinesische Dschunke besteigen werde, um mit dem Besitzer derselben wegen der Passage in Unterhandlung zu treten.
Zunächst war kein Mensch zu sehen. Das Schiff schien ausgestorben zu sein. Auch von einem Bratengeruch war nichts zu verspüren, was den Dicken zu dem Ausruf der Enttäuschung veranlaßte: „Ik ben verschrikt! Hier wordt niets kocht – Ich bin erschrocken. Hier wird nichts gekocht.“
Er hielt seine Nase in alle Richtungen der Windrose, und da er von einem Bratenduft keine Spur bemerkte, so stieß er den Schirm zornig auf und rief: „Ik houd niet van zulk een gedrag; ik loop waarlijk naar mijne herberg – Ich halte nichts von so einem Betragen; ich gehe wahrhaftig nach meinem Gasthof!“
Er wollte sich wirklich wieder nach der Treppe wenden, ließ sich aber durch einen interessanten Anblick, welcher sich ihm bot, daran hindern.
Zunächst war es kein Anblick, sondern ein lieblicher Geruch, welcher plötzlich in seine Nase drang. Es duftete wirklich nach gebratenem Fleisch, wodurch der Scherz des Blauroten zum Ernst wurde. In der Stützwand des hohen Hinterdecks wurde eine Mattentür geöffnet, und es traten vier Chinesen hervor, welche einen Tisch trugen. Auf diesem standen mehrere Porzellangefäße verschiedener Formen mit gebratenem Fleisch, Kuchen, Wein und duftenden Blumen.
„Het middageten komt!“ rief der Dicke, indem sein Gesicht einen freudigen Ausdruck annahm!
„Dat scheint wirklich so!“ nickte Gottfried von Bouillon. „Sollte man unsre Ankunft jemerkt haben und nun mit einem Freundschaftsimbiß feierlichst bejehen wollen? So eine diplomatische Jeschicklichkeit hätte ik bei diese Söhne der Mitte freilich nicht jesucht!“
„Abwarten!“ lachte der Methusalem. „Diese Delikatessen sind jedenfalls nicht für uns.“
„Dann könnten mir diese Kinder des Zopfes immer wieder jestohlen werden.“
Es zeigte sich, daß der Methusalem recht hatte, denn die vier Chinesen machten sehr erstaunte Gesichter, als sie die Fremden erblickten. Sie trugen den Tisch bis zwischen den Mittel- und Hintermast, setzten ihn dort nieder und entfernten
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