32 - Der Blaurote Methusalem
ein janz hinterlistiges Jetränk.“
„Bist du berauscht?“ fragte ihn Degenfeld.
„Berauscht? Fällt mir jar nicht ein! Aber es ist ein ziemlich ähnlicher Zustand. Ich habe mal von einem jelesen, welcher das Opiumrauchen versuchte. Er beschrieb die Wirkung des Jiftes jenau. Mein jetziger Zustand ist janz der seinige, als er sich im ersten Stadium dieser Wirkung befand. Sollte sich Opium in dieses Sam-chu befunden haben?“
„Hm! Auch ich befinde mich in einer eigentümlich heimtückisch dumpfen Aufregung. Aber ich sehe keinen Grund, den Branntwein mit Opium zu versetzen. Wie ist es dir zumute, Richard?“
„Ich befinde mich ganz wohl“, antwortete der Gefragte.
„Weil du nicht getrunken hast. Also ist unser Zustand gewiß eine Wirkung des Sam-chu. Wollen es abwarten!“
Es verging eine halbe Stunde, während welcher sich die vier Männer ruhelos von einer Seite auf die andre drehten. Dann schien einer nach dem andern einzuschlafen.
Richard war noch wach. Er hörte zahlreiche Schritte draußen auf dem Deck; dabei klang es, als ob Taue über Rollen bewegt würden; eine Kette rasselte längere Zeit. Mehreremale wurde von draußen an die Tür der Kajüte gestoßen, als ob man etwas an dieselbe schiebe. Der Neufundländer knurrte, beruhigte sich aber wieder, da niemand den Versuch machte, hereinzukommen.
So verging abermals eine halbe Stunde und noch eine. Es kam Richard vor, als ob der Boden der Kajüte jetzt eine abschüssige Lage habe. Durch die zwei offenen Fenster strömte ein frischer, sehr fühlbarer Luftzug herein, was vorher nicht der Fall gewesen war.
Richard stand auf und sah hinaus. Die Lichter des Hafens waren verschwunden. Das konnte dadurch erklärt werden, daß dieselben wegen der späten Stunde ausgelöscht worden seien. Aber auf jedem Schiff muß doch wenigstens eine Laterne brennen, und jetzt war keine einzige zu sehen, obgleich so viele Dschunken in der Nähe der ‚Schui-heu‘ gelegen hatten. Der Himmel war klar und rein; die Sterne blinkten hell herab. Ihr Schimmer war hinreichend gewesen, die Umgebung des Schiffes erkennen zu lassen, und doch war keine Dschunke, kein Haus zu sehen. Vielmehr drehte sich vor dem Auge Richards eine weite, sanft bewegte, durch nichts unterbrochene Fläche aus, in welcher sich die Sterne spiegelten, das war die See.
Es wurde dem Knaben angst. Sollte die Dschunke sich vom Anker losgerissen haben und von der Ebbe aus dem Hafen getrieben worden sein? Obgleich er kein Seemann war, wußte er doch, wie oft die Gezeiten wechselten. Von einer Gezeit zu andern vergehen zwölf und eine halbe Stunde. Morgen am Vormittag hatte die ‚Schui-heu‘ mit der Flut nach Kanton gehen wollen; jetzt war es vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, folglich stand die See jetzt höchstwahrscheinlich am Beginn der Ebbe. Da war es möglich, daß das losgerissene Schiff aus dem Hafen getrieben worden war, ohne daß die Besatzung desselben, welche vielleicht bis zum letzten Mann schlief, etwas davon bemerkt hatte.
Richard beschloß, den Onkel Methusalem zu wecken.
Dieser aber schlief so fest, daß er den Zuruf des Knaben nicht hörte und es auch nicht fühlte, als dieser ihn kräftig rüttelte. Die Angst des Knaben vergrößerte sich. In der Nähe von Hongkong gibt es viele und gefährliche Felsen. Wenn die Dschunke an einen derselben getrieben wurde, so war sie verloren; das sagte sich der Knabe in seinem Landrattenverstand. Er wollte hinaus auf das Deck, um Lärm zu machen, und schob den Riegel von der Tür. Aber er vermochte dieselbe nicht zu öffnen; sie war von draußen verbarrikadiert.
Jetzt begann ihm eine Ahnung aufzugehen, welche noch viel schlimmer war als seine erste Vermutung war: Die Chinesen waren keine ehrlichen Leute; vielleicht war die ‚Königin des Wasser‘ gar eine Raubdschunke. Man hatte den Europäern Opium in den Sam-chu gegeben, um sie einzuschläfern und dann auszurauben und zu töten!
Bei diesem Gedanken erwachte die ganze Energie des Knaben. Er versuchte noch einmal, den Onkel Methusalem oder einen der andern aus dem Schlaf zu rütteln, doch vergebens.
„Sie schlafen fort“, sagte er. „Sie wachen vielleicht erst nach Tagesfrist auf. Ich und der Hund sind allein munter. Wir werden die Kajüte verteidigen. Diese Halunken sollen erfahren, daß ein deutscher Gymnasiast sich nicht vor ihnen fürchtet! Nicht wahr, mein tapfrer Kerl?“
Er streichelte dem Hund das schöne, langhaarige Fell; dieser blickte ihn mit hellen Augen an, schlug mit der
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