322 - Götterdämmerung
Hände. »Bleibt bitte. Bisher ist doch alles gut abgelaufen. Betrachtet die Feierlichkeit als Abschiedsfest.«
Matt und Xij warfen sich Blicke zu. Es fiel beiden schwer, dem Götländer, der ihnen inzwischen ein Freund geworden war, die Bitte abzuschlagen. Sehr wahrscheinlich hatte er auch recht mit seinen Bedenken. Und kam es nun noch auf einen Tag mehr oder weniger an?
Schließlich entschieden sie sich, zu bleiben. Erleichtert und freudig versprach Gauti, alle Vorkehrungen zu treffen, die eine Abreise am nächsten Tag gewährleisteten. Nachdem die Folgen des kollektiven Besäufnisses überstanden waren.
Dann standen sie eine Weile schweigend an die Palisaden gelehnt und betrachteten die märchenhafte Schneelandschaft, die sich bis zu den Wäldern ausbreitete.
»Was hat diese Ansammlung von Findlingen dort zu bedeuten?« Matt deutete auf einen ovalförmigen Steinkreis abseits der Tore der Siedlung.
»Das sind Schiffssetzungen. Die Grabstätte der Jotunheimener. Da die Wikinger glauben, dass nur Boote sie ins Jenseits geleiten können, benutzen sie diese Steine. Die beiden höheren Findlinge an den Frontseiten markieren jeweils den Vorder- und Achtersteven«, erklärte Gauti eifrig. »Das sind die bei einem Wikingerschiff besonders hochgezogenen Kielverlängerungen an Bug und Heck. Die Toten werden hier mitsamt ihrem Schmuck und anderen persönlichen Gegenständen eingeäschert. Beim Tod eines Häuptlings wird ihm eine Sklavin auf den Weg ins Jenseits mitgegeben.«
»Wie bitte?«, empörte sich Xij.
»Solange ich hier bin, ist das noch nie geschehen«, schränkte Gauti ein. »Außerdem meldet sich die Sklavin freiwillig. Übrigens wird heute noch an dieser Stelle ein Zelt in Form eines Bootes errichtet. Nach den Opferzeremonien wird Efstur dort mit einer seiner Frauen den Schöpfungsakt vollziehen, um den Göttern für die zukünftige Schlacht neue Krieger zu schenken. Und alle im Dorf werden seinem Beispiel folgen.«
Plötzlich spürte Matt Xijs Blick auf sich, und als er zu ihr sah, grinste sie vielsagend. Er räusperte sich. »Lasst uns zu Efstur gehen und mit ihm den morgigen Aufbruch besprechen. Sonst kommen wir heute womöglich nicht mehr dazu.«
Während die beiden Männer sich auf den Weg machten, blieb Xij auf den Befestigungen. Nachdenklich starrte sie zu den Schiffssetzungen hinüber. Auch ohne dass Gauti Einzelheiten über das Begräbnisritual beschrieben hatte, wusste sie Bescheid. Xij kannte sie alle, bis ins blutigste Detail.
Dies war nicht das erste Puzzlestück, das ihr bewies, einst unter Wikingern gelebt zu haben. Vielleicht sogar genau hier, in Jotunheimen. Der bizarre Traum, der Opferpflock vor der Halle des Friedens... Jedes Wort der Normannen hatte sie verstanden in jener Nacht, als der Götländer die Wikinger narrte – aber selbst formulieren konnte sie die Sprache nicht. Als fehlten ihr konkrete Erinnerungen an ihre hiesige Identität. Wer war sie gewesen? Wie hatte ihre Geschichte begonnen? Wie war sie ausgegangen?
Es war, als würde dichter Nebel über diesen Erinnerungen liegen. Vielleicht würde sie es nie herausfinden. Aber spielte es überhaupt noch eine Rolle? Morgen würde sie all das hinter sich lassen und in eine Welt überwechseln, die ihr hoffentlich vertrauter war.
Schweren Herzens kehrte Xij den Schiffssetzungen den Rücken. Während sie die Befestigungen hinabkletterte, nagte das schlechte Gewissen an ihr: Sie hätte Matt längst von den merkwürdigen Empfindungen berichten sollen, aber es hatte sich nie der geeignete Augenblick ergeben. Und jetzt war es unwichtig geworden. Außerdem war Drax ja ständig mit Gauti beschäftigt oder mit der schönen Dimmbrá...
Bei diesem Gedanken fielen Xij die vergangenen Nächte ein, in denen sie wach an Matts Seite gelegen hatte. Mehr als einmal hatte sie sich danach gesehnt, in seinen Armen den ganzen Spuk der Erinnerungsfetzen zu vergessen.
Plötzlich musste sie wieder grinsen. Vielleicht sollte sie ihre Devise, nicht mit der Familie ins Bett zu steigen, über Bord werfen. Und vielleicht war ja diese Sonnwendnacht, in der sich anscheinend ganz Jotunheimen paaren würde, der geeignete Zeitpunkt dafür. Diese Vorstellung erhellte ihre Stimmung und mit großen Schritten stapfte sie durch den schneebedeckten Garten des Götländers zur Vorderfront des Hauses.
Dort angekommen, entdeckte sie den Kleinwüchsigen vor Gautis Tür. Als er sie sah, suchte er schnell das Weite. »Braver Glymjandi. Wartet auf Dimmbrá. Wartet nur auf
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