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33 - Am Stillen Ozean

33 - Am Stillen Ozean

Titel: 33 - Am Stillen Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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der nicht bloß die Sonnen um die Welten wirbelt, sondern den Wurm im Staub bewacht, die Tiefen des Meeres und die Höhen der Berge bestimmt, mit seinem Odem den Halm des Grases und die Wedel der Palme bewegt, im Brausen des Kataraktes, im Heulen des Sturms und im Brand des Vulkans zu uns spricht, im Tropfen ebenso waltet wie im Ozean, im Zweig wie im Urwald, im einzelnen Menschen wie im ganzen Volk, und ohne dessen Willen kein Sonnenstäubchen fliegt, kein Blättchen fällt und kein Haar unsres Hauptes verlorengeht.
    Ein großer, Staunen erregender, Ehrfurcht erweckender Zusammenhang, der unserem Auge nur zuweilen für einen kurzen Augenblick entschwindet, geht durch die ganze Reihe der kreatürlichen Erscheinungen. Keiner kann sich ihm entziehen. Alle sind ihm untertan. Er macht sich bemerkbar ebensowohl in der äußeren Wesensfolge wie in der inneren Entwicklung des einzelnen Menschen und seines Geschlechts. Er verbindet die einzelnen Räume ebenso wie die Stunden und Jahrhunderte und bringt eine Gerechtigkeit zur Offenbarung, in deren Tiefen unsere schwache Erkenntnis nicht zu dringen vermag. Eine jede Pflanze zeitigt ihre Frucht; eine jede Tat, mag sie nun von dem einzelnen oder von der Nation geschehen, trägt den Keim ihrer Vergeltung in sich.
    Wie oft bin ich gerade dieser Gerechtigkeit begegnet, den ganz natürlich und doch so erstaunlich entwickelten Folgen einer Tat, die von Menschen nicht beachtet oder längst vergessen worden war und deren Urheber noch in fernen Zeiten oder in fernen Ländern ganz plötzlich von dem getroffen wurde, von dem der Psalmist singt: „Wo soll ich hingehen vor Deinem Geiste, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, siehe, so bist du da; bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist Du auch da; nähme ich die Flügel der Morgenröte und flöge ans fernste Meer, so würde doch Deine Hand daselbst mich führen und Deine Rechte mich halten!“
    Längst vor den im Kiang-lu erzählten Erlebnissen befand ich mich wieder einmal in der Heimat, und eine Rundreise führte mich an einen berühmten Zentralpunkt des westfälischen Kohlen- und Eisenwerkbetriebes, wo ich einige Tage verweilte. Zur Abreise gerüstet, fuhr ich dann in einer Droschke nach dem Bahnhof, welcher eine ziemliche Strecke von der Stadt entfernt war. Eben als ich ausstieg, verließ ein Zug den Perron, und als ich die Expeditionshalle betrat, wurde einer der Billettschalter geschlossen.
    „Zug nach Düsseldorf?“ fragte ich den Portier.
    „Ist soeben abgefahren.“
    „Ah! Wann geht der nächste?“
    „Sehr spät. In drei Stunden fünfzig Minuten.“
    „Also vier Uhr fünfzig. Bewahren Sie bis dahin meinen Koffer auf.“
    Ich begab mich nach dem Wartezimmer, unentschlossen, ob ich nach der Stadt zurückkehren oder die Zeit bis zur Abfahrt des betreffenden Zuges auf dem Bahnhof verbringen sollte. Kaum hatte ich Platz genommen, so trat der Portier ein, um mir die Marke zu übergeben.
    „Soll ich vielleicht für ein Billet nach Düsseldorf sorgen, mein Herr?“
    „Danke. Werde mich nicht wieder verspäten!“
    Er ging. Im Salon befand sich außer mir nur eine Dame, welche so sehr in die Lektüre einer Zeitung vertieft war, daß sie meinen Eintritt gar nicht bemerkt zu haben schien. Nach einiger Zeit legte sie die Blätter fort und blickte nach der Uhr. Sie erhob sich wie erschrocken und bemerkte mich jetzt.
    „Pardon, mein Herr! Ist es Ihnen vielleicht gegenwärtig, wann der Zug nach Düsseldorf abgelassen wird?“
    „Vier Uhr fünfzig, Mademoiselle.“
    „Quel horreur! Da habe ich mit dieser fesselnden Lektüre die Zeit versäumt! Was tun?“
    Halb ratlos und halb forschend ließ sie ihre Augen über mich gleiten. Dann fragte sie:
    „Kann man nicht eher fort? Vielleicht auf einem Umweg?“
    „Das Bahnnetz ist hier so eng gelegt, daß Sie unter mehreren Umwegen die Wahl haben, doch erreichen Sie Düsseldorf auf einem solchen sicherlich nicht eher, als wenn Sie hier drei Stunden warten.“
    „Fatal!“
    „Allerdings, wie ich an mir selbst erfahre.“
    „Wieso?“
    „Ich habe ganz denselben Zug versäumt.“
    Ein halbes Lächeln überflog ihr Gesicht.
    „Ich kondoliere! Aber meinen Sie vielleicht, daß in der Gleichheit unseres Schicksals eine Beruhigung für mich liegen könne?“
    „Vielleicht; doch kommt es hierbei auf den Charakter oder vielmehr auf die Beschaffenheit des Gemütes an. Gleichheit des Schicksals erzeugt Teilnahme, und Teilnahme mildert ja bekanntlich den

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