335 - Der verlorene Sohn
Blut!
Keran taumelte nach vorn zum Ausschank. Er erkannte Powl sofort. Der Hüne lag wie schützend über einem schmaleren Körper.
»Meg!« Keran wuchtete Powl von seiner Schwester herunter. Vorsichtig drehte er sie herum. Ihre Haut war bleich, wirkte zerbrechlich wie Porzellan. Ihre Augen standen offen und starrten blicklos ins Leere. Megs Kopf hing in unnatürlichem Winkel zur Seite.
Keran schluchzte haltlos, während er über seiner Schwester kauerte. Die Androiden hatten sie doch noch geholt. Ein paar Winter Aufschub, mehr war ihr nicht vergönnt gewesen. Keine Heirat, keine Kinder, kein Friede...
Während er die Tränen wegwischte, kroch er zu Jaison. Der schlaksige Gemüsehändler trug immer eine doppelläufige Flinte unter seinem Mantel, wie Keran wusste. »Um mich vor Strauchdieben wie dir zu schützen«, hatte Jaison ihm grinsend erklärt. Jetzt sah sein Mund aus wie eine offene Wunde.
Keran dachte nicht mehr über das nach, was um ihn herum geschehen war. Sein Hass auf die Mörder seiner Schwester hatte die Oberhand gewonnen. Er griff sich die Flinte und rannte auf die Straße hinaus. Er wollte handeln, anstatt zu denken oder zu fühlen.
Die Gruppe aus Androiden war nicht mehr zu sehen, doch er ahnte, welche Richtung sie eingeschlagen hatten: Den Maschinenmenschen ging es immer um Macht und Kontrolle. Sie liefen zweifellos zum Pentagon.
Behände sprang Keran auf Powls Bike und warf den Motor an. Er hatte es sich schon öfter mal heimlich ausgeliehen, wenn Powl und seine Schwester beschäftigt waren. Die Flinte schob er in ein Holster am Sitz, dann gab er Gas.
In Gedanken bei seiner Schwester, schlug er einen Bogen, um den Androiden den Weg abzuschneiden. Er musste diese Stadt beschützen. Er musste verhindern, dass sie weiteren Schaden anrichteten. Auch wenn er die Typen im Pentagon verachtete – es waren immerhin Menschen.
Die Straßen waren wie leergefegt, was das Vorankommen erleichterte. Die Bewohner verbarrikadierten sich in ihren Häusern, überließen Waashton kampflos den Feinden. Weichlinge!
An seine eigene Sicherheit verschwendete Keran keinen Gedanken. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Er würde Meg rächen!
Als er die Androiden von weitem sah, sprang er von Powls Bike. Zitternd trat Keran auf die Mitte der Kreuzung. Kalt blickte er den Androiden entgegen und brachte das Gewehr in Anschlag.
Stoisch kamen die nach Schablonen gefertigten Geschöpfe näher, die Gesichter bar jeder Emotion. Seelenlose Körper, von Teknikk beseelt und einem eiskalten logischen Willen gesteuert.
Keran feuerte den ersten Schuss ab. Sofort beschleunigten die Androiden. Drei der glatzköpfigen Männer lösten sich aus der Gruppe und rannten auf ihn zu. Gleichzeitig hörte er das Quietschen von Reifen. Ein Laster schleuderte um die Ecke, bremste, als der Fahrer ihn sah. Doch zu spät. Ein wuchtiger Schlag traf Keran von der Seite, schleuderte seinen Körper durch die Luft und sein Bewusstsein in die Dunkelheit.
***
»Du hast ganz schön was abbekommen, Junge«, durchdrang eine Stimme die Schwärze.
In Kerans Schädel schienen hundert Nobelstangen gleichzeitig zu explodieren. Beim Atmen fühlte er tausendfache Nadelstiche in der Brust und sein rechter Fuß stand in einem unnatürlichen Winkel ab.
Die Androiden! Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück.
»Sie... Sie haben mich angefahren!«, krächzte er.
»Du hast dich mitten auf die Kreuzung gestellt«, konterte der Fremde. »Dachtest du wirklich, die U-Men mit einem Gewehr aufhalten zu können?«
»U-Men?«, echote Keran. Der Begriff war ihm unbekannt.
»So werden die Kunstwesen genannt, die Waashton überfallen haben«, erklärte der Fremde. »Eine spezielle Art Roboter, deren Biomasse aus Leichenteilen hergestellt und über ein Plysterox-Skelett gezogen wird.«
Keran verstand nur die Hälfte von dem, was sein Gegenüber sagte, aber das genügte, um Ekel bei ihm auszulösen. Nun, ganz unbeteiligt war auch der Fremde selbst daran nicht: Wo bei anderen eine Nase saß, klaffte in seinem Gesicht eine verschorfte Wunde. Er besaß keine Ohren und über seine Wangen liefen zahlreiche Narben. Die Zähne lugten hinter ausgefransten Hautlappen hervor.
»Kein schöner Anblick, was?«
Keran zuckte ertappt zusammen. »Ich... ja... also nein. Es tut mir leid.« Seine Wangen glühten.
»Mein Name ist Fudoh«, sagte sein Gegenüber. »Ich stamme aus Nipoo [9] .«
»Ich bin Keran. Danke für die Rettung.«
»Es war knapp. Die Warlynnes haben uns bis zur
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