335 - Der verlorene Sohn
betrat der betrunkene Wachmann die Halle, an seiner Seite eine vollbusige Blondine, die nur einen fadenscheinigen Fetzen am Leib trug.
»Machen wir’s gleich hier«, lallte der bärtige Dickwanst. Die Blonde kicherte, als er sie auf den Boden warf.
Keran verzog beim anschließenden Grunzen und Stöhnen angeekelt das Gesicht. Vorsichtig schlich er zum Ausgang, immer darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. So beschäftigt, wie die beiden waren, würden sie ihn nicht bemerken.
Vor der Halle kroch er in den Busch vor dem Fenster und wartete. Das Liebesspiel der beiden konnte schließlich nicht ewig währen.
Bereit, jederzeit die Zündschnur mit Schwefelhölzern in Brand zu setzen, wartete Keran geduldig. Aber noch während er seine weiteren Schritte durchdachte, erregte ein plötzlicher Geruch seine Aufmerksamkeit. Schnuppernd streckte er die Nase in die Luft. Roch es nach Rauch?
Suchend blickte Keran umher. Als er seinen Blick zur Fensteröffnung über sich richtete, schrak er zusammen. Dünne Rauchkringel zogen aus der Halle ins Freie. Pafften die beiden etwa nach dem Liebesspiel?
»Gib mir auch davon!«, erklang jetzt die bettelnde Stimme der Blonden, gefolgt von einem: »Hoppla, jetzt ist es mir runtergefallen.«
Der Wachmann fluchte. Dann ertönte ein Zischen und die Frau fragte verwundert: »Was ist das denn?«
Keran riss entsetzt die Augen auf. Doch bevor er in irgendeiner Weise reagieren konnte, zerriss ein gewaltiger Explosionsdonner die Stille.
Die Druckwelle traf ihn wie ein Dampfhammer und schleuderte ihn davon. Zum Glück, denn im nächsten Moment krachte ein spitz zulaufendes Schrapnell – vermutlich aus den Überresten einer Maschine – in den Busch, hinter dem er gekauert hatte. Steinbrocken prasselten herab, vermengt mit scharfkantigen Splittern.
Dann wurde es um ihn herum still. Flammen loderten hinter den leeren Augenhöhlen der zersplitterten Fabrikfenster. Keran robbte über den Boden, kam taumelnd zum Stehen. Hektisch sah er umher. Der andere Wachmann mühte sich gerade auf die Beine.
Sein Kollege und die blonde Frau waren tot, von der Explosion zerrissen worden. Diese Erkenntnis traf Keran wie ein zweiter Schlag.
Er begann zu rennen. Sein Blick war getrübt, alle Geräusche klangen dumpf, doch das war unbedeutend. Er musste zu Meg. Sie würde wissen, was zu tun war. Das wusste sie immer.
***
Keran taumelte durch die Straßen. Erst nachdem der schlimmste Schock überwunden war, bemerkte er die Wunden und Prellungen, die er sich zugezogen hatte. Sein Körper war überzogen von eingetrocknetem Blut. Doch das war ihm jetzt völlig egal.
Er war ein Mörder! Er hatte zwei Menschen umgebracht!
Die Schuld hämmerte in ihm und ließ ihn die Verletzungen kaum spüren. Zwei Unschuldige waren in dem Feuer verbrannt, das er verursacht hatte!
Keran schaffte es nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles um ihn herum blieb seltsam substanzlos, ungreifbar. Meg! Er wollte zu Meg. Wo war seine Schwester? Natürlich, in der Bar.
Keran änderte die Richtung und lief direkt zu der Kneipe, in der Meg arbeitete. Sie lag nur zwei Blocks entfernt, zwischen dem Häuserblock, in dem sie beide wohnten, und dem angrenzenden Viertel.
Doch als er die Bar erreichte, begriff er, dass etwas nicht stimmte. Etwas, das nichts mit der Explosion in der Fabrik zu tun hatte.
Er sah eine kleine Gruppe, bestehend aus Männern, Frauen und sogar Kindern. Das Bizarre daran: Sie alle waren glatzköpfig, trugen dieselbe Kleidung – einteilige Overalls – und sahen einander ähnlich wie Zwillinge. Dabei wirkten ihre Züge maskenhaft starr und bar jeglichen Lebens.
Keran begriff sofort: Obwohl sie wie Menschen aussahen, musste es sich um Androiden handeln! Es gab einfach keine andere Erklärung.
Panisch rannte er an Autowracks und brennenden Mülltonnen vorbei und entdeckte leblose Körper von Stadtbewohnern am Boden. Hatten die Androiden sie auf dem Gewissen? Wer sonst?
Was war hier nur geschehen?
Oder – auch dieser Gedanke zuckte durch Kerans Kopf – bildete er sich das alles nur ein? Lag es an den Steinbrocken, die ihn am Kopf getroffen hatten? Sah er Gespenster?
Als er die Bar betrat, verwehten diese Gedanken in einem Moment grausamen Begreifens.
Auch hier lagen überall tote Menschen. Einige waren wohl von der Straße hier herein geflüchtet, um Schutz zu suchen. Einige hatte es direkt neben dem Eingang erwischt, andere waren wie Strohpuppen gegen die Wände geworfen worden. Überall
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