Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
Vom Netzwerk:
Experiment. Normalerweise mache ich ja keine Experimente, ich bin ja wie gesagt keiner dieser Naturwissenschaftler, sondern vielleicht so etwas wie der letzte, vereinsamte Generalist des Meeres, in Nietzsches Fahrwasser unterwegs; nicht dass ich mich jetzt mit Nietzsche vergleichen wollte, das wäre vollkommen vermessen.« Horowitz überlegte kurz, dann fuhr er fort: »Auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen, erzähle ich Ihnen ganz kurz, warum das Meer Nietzsches Lieblingsbild seiner Philosophie war. Darf ich?«
    Ella nickte: »Ja, gern.«
    »Also für Nietzsche war das Meer das reine Werden, die Wellen standen für ewige Wiederkehr, und der Horizont für die Erkenntnis, dass die Wahrheit nichts als Schein ist. Aber Nietzsche hat das Meer vor allem als Metapher benutzt, und für mich ist es natürlich viel mehr nur als eine Metapher.« Horowitz brach ab und schüttelte den Kopf: »Er wäre auch niemals so dämlich gewesen, ein solch lächerliches Experiment zu unternehmen wie ich, aber vielleicht habe ich ihn auch falsch verstanden. Ich bin mir da nicht mehr so sicher, wie das mit dem Horizont und der Wahrheit ist. Aber ich will Sie jetzt gar nicht mit all diesem Kram quälen. Sehen Sie die beiden Bilder dahinten?«, fragte er unvermittelt.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Da hängt Nietzsche direkt neben Michelet, einem der großen Naturhistoriker, leider schon lange tot. Der hat mich auf die Idee mit dem Urschleim gebracht.«
    Ella entdeckte zwei alte, hölzerne Rahmen, in denen ein Bild von Nietzsche mit seinem gewaltigen Schnauzbart und daneben das eines älteren Herrn steckte. Der ältere Herr trug das weiße Haar sichelförmig über die Schläfe gekämmt, hatte den Mund eingezogen, die Nasenlöcher gebläht und die eine Hand napoleonisch in den schwarzen Rock geschoben.
    »Ich dachte, ich könnte etwas herstellen, das ich bis ins kleinste Detail verinnerlicht hatte. Ich wollte meine Wünsche materialisieren – auf der Basis von genauester Kenntnis, aber das ging nicht. Und jetzt steht hier dieses Ungetüm. Ich kann mich nicht davon trennen. Es ist das Wrack meiner Möglichkeiten.«
    Sie schaute ihn an und spielte an ihrem Ohrring: »Oder Unmöglichkeiten.«
    »Möglichkeiten? Unmöglichkeiten? Keine Ahnung. Wenn man in meinem Alter ist, dann hat es ja fast etwas Tröstliches, dass sich nicht alle Vorstellungen realisieren lassen«, sagte er heiser.
    Sie schwieg.
    »Oder?«, Er schaute sie an, als glaubte er seinen eigenen Worten nicht und hoffte, dass Ella sie entkräftete.
    »Ich glaube noch daran«, sagte sie und strich sich über den Nasenrücken.
    »An den Urschleim in meinem Wohnzimmer?«, fragte er schmunzelnd.
    Sie lachte: »An den auch.«
    Sie ging ein paar Schritte durch den Raum: »Zeigen Sie mir jetzt die anderen Zimmer?«
    Er lächelte und sagte: »Sie meinen es ernst, oder?«
    »Ich weiß noch nicht, ob ich mich traue«, sagte sie zögerlich, »aber ernst meine ich es.«
    Er schaute sie einmal kurz an, dann blickte er zu Boden und wollte gerade eine der großen Flügeltüren öffnen, die den »großen Salon« mit dem Esszimmer verbanden, das sie vorhin schon kurz erspäht hatte.
    »Darf ich Sie noch was fragen?«, fragte Ella.
    Er hob die Augenbrauen.
    »Warum liegt in Ihrem Aquariumswrack eine Perücke?«
    »Eine Perücke?«, fragte er ungläubig. »Da liegt doch keine Perücke…«, sagte er, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf: »Ach, Sie meinen den Bart?«
    »Den Bart?«
    »Das ist einer der schlechten Scherze meiner Zwillingsschwester. Erzähl ich Ihnen später. Wenn ich jetzt schon alles verrate, dann kommen Sie womöglich nicht mehr wieder.«
    Er streckte sich, beugte sich über das Aquarium, griff mit seinen Fingerspitzen nach dem Bart und warf ihn in den Papierkorb, der direkt daneben stand.
    »Haben Sie auch Geschwister?«, fragte er.
    »Eine Schwester«, sagte sie.
    »Wie heißt sie?«
    »Jasmin.«
    »Ein zartes Pflänzchen?«, fragte er.
    »Eher das Gegenteil«, sagte sie, »meine Mutter hat ein Faible für alles Arabische, aber der Name passt wirklich überhaupt nicht zu meiner Schwester. Außerdem denken jetzt alle, wir wären in der DDR aufgewachsen.«
    Horowitz lachte. »Und?«
    »Und was?«
    »Können Sie sich leiden: Sie und Ihre Schwester?«
    »Wir sind sehr verschieden.«
    »Ach so«, sagte er, »das kann ich mir vorstellen.«
    Sie atmete aus.
    Nun öffnete er die zweite Flügeltür.
    »Und wieso Ella?«
    »Ella Fitzgerald. Meine Mutter liebt arabische Männer und Ella

Weitere Kostenlose Bücher