34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
wie eine Flunder. Rings um mich redeten nun alle beruhigend auf mich ein, jemand streichelte sogar meinen Hinterkopf, aber ich dachte nur daran, dass das Auto hätte bremsen können und dass die Frau aus dem silbernen Auto meine Schwester abgeschüttelt hatte wie einen kleinen, tollwütigen Fuchs. Durch die Sirenen hindurch hörte ich einen Mann fragen: ›Kennt ihr die Telefonnummer eurer Mutter?‹
Und meine Schwester nickte.
›Dahinten ist eine Telefonzelle, ich ruf sie schnell an‹, sagte der Mann.
Meine Schwester zögerte, schaute mir in die Augen.
›Nein‹, formte ich mit den Lippen.
Meine Schwester wandte sich wieder dem Mann zu und nannte ihm dann – ohne mit der Wimper zu zucken – eine Nummer, bei der sie die ersten beiden Zahlen vertauscht hatte.
Ich wurde nun auf eine Bahre gezogen, und irgendjemand machte irgendetwas mit meinem Bein, das nie wieder Springseil springen würde, das ich nicht einmal spürte, zumindest nicht so, als wäre es noch meins, sondern eher so, als würde es nur zufällig an meiner Hüfte hängen. Mein Arm war schon verbunden, ich wunderte mich über das Tuch, das meine Haut bedeckte. Die Hand meiner Schwester zitterte nun auch, aber sie lag auf meinem Bauch. Und plötzlich spürte ich wieder was, mir wurde kotzübel. ›Sie kippt uns weg‹, hörte ich noch eine helle Stimme sagen, dann kippte ich – wohl – weg.«
Natalia hatte die Augen immer noch geschlossen, sodass Ella ihr Gesicht unverhohlen betrachten konnte. Bis auf ihre Lippen war Natalias Gesicht ganz und gar unscheinbar, an ihrem Scheitel zeigte sich ein aschblonder Haaransatz. Das Weißblond und die Lippen waren ein Missverständnis, sie verwandelten Natalia nicht in eine glamouröse Frau, sie verwackelten nur das ohnehin schon schemenhafte Antlitz und sorgten dafür, dass man sich die ganze Zeit fragte, was an diesem Bild nicht stimmte.
»Und dann?«, fragte Natalia und schaute Ella an. »Was ist dann passiert?«
»Dann kam ich ins Krankenhaus, und meine Mutter kam mich nicht einmal besuchen, sie war nicht in der Stadt. Meine Schwester erzählte mir, sie hätte einen neuen Scheich. Und ich hatte Verständnis dafür. Drei Tage lag ich auf der Kinderstation, sah Mütter mit Pixiebüchern und Gummibärchentüten in unser Vierbettzimmer kommen; Väter, die versuchten, gute Laune zu verbreiten, und eine Großmutter, die Gugelhupfe mitbrachte, eingewickelt in karierte Küchentücher, Gugelhupfe mit extra vielen Rosinen. ›Wo sind denn deine Eltern?‹ fragte mich die Großmutter am ersten Abend.
Und ich antwortete: ›Die sind gerade aus der Tür.‹
Ich wollte nicht, dass man meiner Mutter Vorwürfe machte, wenn sie doch noch auftauchte.
Irgendwann kam eine Dame in einem grauen Kostüm mit hellgrauer Bluse und roten Strümpfen. Sie setzte sich an den untersten Rand meines Bettes. Noch bevor sie was sagen konnte, wusste ich, dass sie vom Jugendamt war. Ich weiß nicht, woher ich das wusste, woher ich überhaupt wusste, dass es so etwas wie ein Jugendamt gab, aber sie war vom Jugendamt. Und ich beschloss, sie zu besiegen.
Sie sagte: ›Hallo Ella, wie geht’s denn deinem Bein?‹
›Na ja‹, sagte ich.
›Die Schwestern haben mir gesagt, dass sie bei dir zu Hause niemanden erreichen können und dass du gar keinen Besuch bekommst. Stimmt denn das?‹
Ich schüttelte den Kopf. Mir fiel einfach nichts ein. So würde ich sie nicht besiegen, niemals.
›Wo ist denn deine Mutter? Arbeitet die viel?‹ fragte die Dame, und ich schaute auf ihre roten Strümpfe, die so gar nicht zu ihrem grauen Kostüm passen wollten.
›Sie ist gerade aus der Tür‹, sagte ich dann, ›sie ist so blond und klein.‹
›Sie kommt dich also doch besuchen, deine Mutter?‹
Ich nickte: ›Klar‹, sagte ich, ›warum nicht?‹
Dann hielt ich den Atem an, weil ich mir sicher war, dass sie mir nicht glauben würde, kein Wort, und ich sie nicht besiegen würde, weil sie ein graues Kostüm anhatte und da unten an meinem Bett saß und den Storch mimte, den niemand besiegen konnte, weil er ganz oben saß in seinem Nest und die Kinder brachte, in Sicherheit brachte. Aber mitten in meine Gedanken hinein hellte sich ihr Gesicht auf, sie erhob sich, setzte die Storchenbeine sanft auf den gekachelten Boden, strich mir über den Kopf und sagte: ›Na, dann ist ja alles gut. Das hätte mich auch gewundert. Die Schwestern können ja auch nicht alles wissen, die haben so viel zu tun, weißt du? Ich werde das noch mal mit denen
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