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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Natalia stand mit dem Rücken zu ihr, als Ella plötzlich hörte, wie sie flüsterte: »Und deswegen verstehe ich nicht, warum er mein Leben haben will.«
    »Wer?«, fragte Ella. »Wer will dein Leben haben?«
    »Harry«, fuhr Natalia fort, immer noch mit dem Rücken zu Ella.
    »Was heißt das, er will dein Leben haben?«, fragte Ella jetzt ebenso leise.
    »Das weiß ich nicht, aber er hat es mir gesagt. Er taucht ständig auf. Beim Unfall, bei meinem Stammkunden, bei der Beerdigung meiner Mutter.«
    »Und was hat er gesagt?«, fragte sie, während das Wort Stammkunde noch unangenehm nachklang.
    »Er stand neben mir am Grab meiner Mutter. Ich war ganz allein da, sonst nur der Priester. Meine Mutter hatte hier außer mir keine Familie, und Freunde hatte sie auch nicht. Sie ist vor drei Jahren aus Krakau hierhergezogen, weil sie nach mir sehen wollte. Aber sie hat nicht nach mir gesehen, sie war nur in den Kaufhäusern, den ganzen Tag in den Kaufhäusern. Sie hat das alles nicht verkraftet. Und dann das Fernsehen, die Shopping-Kanäle. Obwohl wir das doch auch alles hatten in Krakau, ich verstehe das einfach nicht. Es war doch nichts Neues, nichts wirklich Neues. Aber ich musste für alles bezahlen. Für den falschen Rubinring, die aufblasbare Nackenstütze, das Diätpulver, die Brotschneidemaschine.« Natalia hielt inne, dann setzte sie wieder an: »Und dann kam er auf der Beerdigung meiner Mutter über den Friedhof gelaufen und stellte sich neben mich ans Grab. Er sagte, er habe sie auch nicht gekannt. Da musste ich laut lachen, trotz Priester habe ich laut gelacht, weil das ein guter Spruch war: dass er sie auch nicht kannte. Er kannte meine Mutter nicht und ich kannte meine Mutter nicht, jedenfalls nicht so, wie eine Tochter ihre Mutter kennen sollte. Ich sagte dann zu ihm, wenn ich mich wenigstens selbst kennen würde, und er sagte: Dein Leben will ich haben.«
    Ella schaute Natalia verwundert an: »Das war alles?«
    Natalia nickte.
    »Aber das heißt doch nicht, dass er dir nach dem Leben trachtet«, sagte Ella.
    »Nein? Natürlich heißt es das!«
    »Nein. Das könnte doch auch heißen, dass er mit dir tauschen möchte.«
    »Mit mir tauschen?« Natalia schüttelte den Kopf.
    »Wieso sollte er mit mir tauschen wollen?«
    »Wieso sollte er dir ans Leben wollen?«
    »Weil er immer wieder auftaucht.«
    »Vielleicht ist das alles nur ein Zufall«, sagte Ella.
    »Ein Zufall? Das ist doch absurd! Aber wie auch immer: Es ergibt alles keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn. Vielleicht sind es also doch alles Zufälle, und ich stecke da Dinge zusammen, die gar nicht zusammengehören. Als ich klein war, bin ich bei jeder gottverdammten Familienfeier verkleidet auf den Tisch gestiegen und habe gesungen, Kim Wilde, Madonna und so was, aber dann ist mein Vater gestorben, und meine Mutter brachte diesen Typen nach Hause…«, Natalia stockte, »und dann bin ich abgehauen nach Berlin. Aber nicht wie die alte, englische Lady, von der du mir erzählt hast. Wie hieß die noch mal? Ach, egal. Jedenfalls hab ich mir – anders als die Lady – keine Männerklamotten angezogen und hab auch keine neue Welt entdeckt hier in eurem prächtigen Deutschland. Irgendwas ist da abgebrochen damals, und seitdem ergibt alles keinen Sinn mehr. Ich stecke Dinge zusammen, die nicht zusammenpassen, aber wohin soll ich sie sonst stecken? Ich singe gar nicht mehr, nie, nicht einmal auf dem Fahrrad, obwohl es massenhaft singende Fahrradkuriere gibt. Ist dir das schon mal aufgefallen? Die sitzen fast alle singend auf dem Fahrrad. Ich nicht. Ich mache meine Arbeit, höre ein bisschen Musik, räume hier in meiner Wohnung rum, glotze den Rest der Zeit und warte, bis es Abend wird. Das Mikrophon da – ich hab’s schon ewig nicht mehr angerührt.«
    Ella schwieg.
    »Und weißt du, was komisch ist, ich habe trotzdem eine riesige Angst vor dem Tod. Das hat er mich auch noch gefragt auf dem Friedhof, der Mann mit den weißen Haaren, ob ich Angst vor dem Tod hätte«, sagte Natalia.
    »Und?«
    »Das geht ihn doch nichts an. So was fragt man doch einen fremden Menschen nicht. Und weißt du, was der gemacht hat? Er hat sich umgedreht und gesagt: Die kommt noch, du wirst sehen, die kommt noch.«
    Ella schaute sie fragend an.
    »Das war eine Drohung«, sagte Natalia, »wenn das keine Drohung war!«
    Ella schüttelte den Kopf: »Das ist doch ein ganz naheliegender Satz auf einer Beerdigung, vielleicht nicht gerade feinfühlig, aber naheliegend ist er.«
    »Wenn du

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