34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
meinst«, sagte Natalia und schaute Ella mit einem kindlichen Blick an. »Das ist schön, wenn du so was sagst. Du kannst echt wahnsinnig gut trösten. Ich hab noch nie jemanden getroffen, der so gut trösten kann wie du. Meine Mutter konnte null trösten, zero.«
»Meine auch nicht«, sagte Ella leise.
Sie tranken eine Weile schweigend den Kaffee.
Das ist wirklich ein Geschenk, dachte Ella, dass ich jemanden gefunden habe, den ich trösten kann.
Natalia wirkte jetzt erschöpft. Die Blutergüsse, das eingegipste Bein, das Zusammenhangs- und Mutterlose. Als Ella Natalia eine Hand auf den Arm legte, ergriff Natalia die Hand sofort und drückte sie so fest, dass es fast wehtat: »Ich hab mir immer eine ältere Schwester gewünscht, na ja, um ehrlich sein, einen älteren Bruder, aber jetzt habe ich ja dich, und das ist mindestens genauso gut. Ich kenne dich ja kaum, und vielleicht nimmt auch das wieder ein böses Ende, aber ich vertrau dir irgendwie und finde es total cool, wie du die Welt siehst, so klar, und wie du mit mir redest, so viel Klartext habe ich ja überhaupt noch nie auf einem Haufen gehört.«
Klartext?, dachte Ella.
»Fahren wir«, sagte Natalia, »ich kann nicht mehr, mir tut alles weh. Ich will zurück ins Krankenhaus. Gehst du vor?«, fragte sie.
Ella schaute sie fragend an.
Natalia hob das Bündel Geld in die Höhe und zuckte mit den Schultern: »Wirklich, ich glaube nicht, dass du hierherkommst und es mir klaust, aber…, ich kann einfach nichts mehr riskieren, und man weiß ja nie, oder?«
»Man weiß ja nie«, sagte Ella und ging aus der Wohnung. Irritierend war das schon, dass Natalia ihr zutraute, sie zu bestehlen, aber Natalia schien ihr einfach alles zuzutrauen, in jeder Hinsicht.
»Vielen Dank, dass du dabei warst«, sagte Natalia, als sie kurz darauf im Taxi saßen, und legte ihren Kopf auf Ellas Schultern. Ella strich ihr über den Kopf und schaute dabei auf Natalias Hand, die nun auf Ellas Bein lag. Natalia hatte sich ein Kreuz auf ihr Handgelenk tätowieren lassen.
»Bist du katholisch?«, fragte Ella.
»Klar«, sagte Natalia, »ich bin Polin. Ich hatte so ein hübsches Kleid bei der Erstkommunion – mit Rüschen und Glitzer und kleinen aufgestickten Röschen, so hübsch. Und du? Hattest du auch ein schönes Kleid?«
»Ich? Nichts.«
»Keine Kommunion?«, fragte Natalia.
Ella schüttelte den Kopf.
»Du Arme! Glaubst du an gar nichts?«
»Na ja, vielleicht ein bisschen, aber nicht an einen bestimmten Gott, das nicht.«
»Vielleicht ein bisschen? Wie soll das denn bitte gehen? Wenn man glaubt, dann glaubt man. Du Arme, das geht doch nicht. Man muss doch an Gott glauben. Ich bete ständig und versuche jeden Tag einmal kurz in die Kirche zu gehen, oder sagen wir, jeden zweiten, na ja, auf jeden Fall jeden dritten. Ich radle an einer Kirche vorbei und steige schnell ab und gehe da rein mit meinen Fahrradklamotten und bete, was das Zeug hält, und danach geht’s mir besser. Und er nimmt mir nichts übel, nicht mal die krummen Geschäfte, er hat für alles Verständnis. Bei all dem Mist, den ich baue, wäre ich schon längst geliefert ohne Gott. Und weißt du, was das Schönste ist? Manchmal singt jemand, wenn ich in die Kirche komme, manchmal einer allein, aber manchmal auch ein ganzer Chor, und dann muss ich jedes Mal heulen wie ein Schoßhund.«
»Schlosshund«, sagte Ella lächelnd.
»Schlosshund?«, wiederholte Natalia.
»Und warum singst du dann nicht in einem Kirchenchor? Ich meine, bis es so weit ist mit deinen…Brüsten?«
»Im Kirchenchor? Ich? Bist du verrückt?«
Ella schwieg.
»Im Kirchenchor…«, sagte Natalia leise vor sich hin und schüttelte den Kopf.
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Natalia: »Hattest du eigentlich auch mal einen schlimmen Unfall?«
»Ja, hatte ich. Als ich klein war. Auch mit dem Fahrrad.«
»Echt? Erzählst du mir davon? Bitte! Dann hör ich auch endlich mal was von dir und nicht nur von irgendwelchen verstaubten Ladys, obwohl die auch toll waren. Aber ehrlich gesagt, verstehe ich eh nicht, warum du von anderen Frauen erzählen willst. Erzähl doch mal was von dir! Das ist doch viel spannender.«
»Mach ich doch. Ich erzähl nur was über Frauen, die was mit mir zu tun haben«, sagte Ella. »Sonst würden die mich doch gar nicht interessieren. Immer wenn ich was über eine Frau lese, die mich interessiert, frage ich mich, ob ich nicht eigentlich lieber wie sie leben möchte. Das ist doch eine Frage, die wir uns alle immer
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