34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
aufzuessen, aber ich konnte es nicht einmal anrühren. Keinen Bissen bekam ich herunter. Weder von meinem noch von dem Teller meiner Schwester. Meine Mutter wollte mich sogar füttern, saß ganz dicht neben mir, pikste einzelne Nudeln auf und tunkte sie vorsichtig in die Sauce, aber es ging nicht.
›Was haben die mit dir gemacht im Krankenhaus? Dass du gar keinen Appetit hast?‹ fragte sie kopfschüttelnd, räumte den Teller weg und stellte mir eine Schale mit Vanillepudding vor die Nase.
Ich schaute sie zögernd an. Sie erwiderte meinen Blick mit leicht gekräuselter Stirn, dann fasste sie sich an den Kopf, tauschte meine Schale mit der meiner Schwester und lachte: ›Stimmt ja, das hätte ich fast vergessen.‹
Aber selbst der getauschte Pudding blieb stehen.
Meine Schwester sagte die ganze Zeit kein Wort. Als meine Mutter ein paar Stunden später verschwand (der neue Scheich wartete auf ihren abendlichen Besuch), regte sie sich wieder, streckte die Arme über den Kopf und flüstert beiläufig: ›Ich hasse sie.‹
Ich schaute meine Schwester entgeistert an. ›Was? Warum denn? Warum sagst du so was?‹ fragte ich.
Aber meine Schwester nahm meine unverletzte Hand, schüttelte den Kopf und murmelte: ›Ach, Quatsch.‹ Dann stand sie auf, holte einen roten und einen blauen Stift und fing an, Tiere auf meinen Gips zu malen. Ich malte einen Storch, einen blauen.
In den folgenden Tagen kam der Chauffeur jeden Morgen vorbei, er hob mich hoch, trug mich in die schwarze Limousine und fuhr mich durch die Stadt. Einmal trug er mich eine ganze Stunde durch den Zoo, ein anderes Mal trug er mich ins Kino, und am letzten Tag ging er mit mir in einen ganz feinen Laden, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Die Verkäuferin nannte mich Täubchen, brachte mir einen Orangensaft und breitete die feinsten Kleider vor mir auf dem flauschigen Teppich aus. Ich durfte auf Röcke, Blusen, Jacken zeigen, und alles, worauf ich zeigte, wurde in roséfarbenes Seidenpapier gewickelt und in große, steife, glänzende Tüten verpackt.
Bevor er mich zu Hause ablieferte, trug der Chauffeur mich und die Tüten noch an einer Eisdiele vorbei. Er trug mich bis in mein Zimmer, dann verabschiedete er sich mit einer tiefen Verbeugung und kam nicht wieder. Das ganze Jahr hindurch trug ich die Kleider, nur diese Kleider. Als sie zu klein wurden, faltete ich sie zusammen, wickelte sie in Zeitungspapier und legte sie ganz oben in meinen Schrank. Und ich beschloss, auf ihn zu warten, bis ich alt genug sein würde, um ihn zu heiraten.«
»Wir sind da«, sagte der Taxifahrer.
»Schade«, sagte Natalia, »wie viel?«
Der Taxifahrer kassierte und schaute Ella an: »Sie sollten zum Radio gehen. Sie haben eine tolle Stimme, wirklich eine tolle Stimme.«
»Ich gehe zum Radio«, sagte Ella, half Natalia beim Aussteigen und schloss die Tür.
Sie gingen schweigend in Natalias Krankenzimmer, und als sie sich verabschiedeten, sagte Natalia: »Genau so was wie gerade mit dem Taxifahrer und dem Radio, genau so was passiert mir nie. Es passt nichts zusammen, verstehst du, was ich meine? Nicht mal mein Körper passt zu meinem Leben.« Dann zog Natalia Ella an sich heran und flüsterte: »Danke, Ella.«
Auf dem Weg zur U-Bahn dachte Ella, dass sie Natalia wirklich mochte und dass die Begegnung mit ihr sehr seltsam war. Ella hatte noch nie einen Menschen getroffen, der so wenig zu ihr passte, noch nie jemanden, der sie brauchte und für den sie eine Orientierung und Trost darstellte, und noch nie jemanden, der davon überzeugt war, dass man ohne Gott verloren war. All das war ziemlich seltsam und fühlte sich doch erstaunlich gut an.
12
Am Rosenthaler Platz stieg Ella aus. Sie wollte Paul jetzt in seinem Laden besuchen. Gestern hatte er ihr gesagt, dass er heute die letzten Bilder einer Ausstellung rahmen musste. Sie wollte ihm von Natalia erzählen, davon, wie sehr Natalia sie anrührte mit ihrer weltanschaulichen Geisterfahrerei, und ihm ein bisschen bei der Arbeit zusehen. Sie wollte sich in eine Ecke seines Ladens setzen und ihn dabei beobachten, wie er Passepartouts zuschnitt und einpasste. Schon immer hatte sie Handwerkern gern bei der Arbeit zugesehen – routinierte Bewegungsabläufe beruhigten sie, weil sie ihr das Gefühl gaben, das Leben wäre handhabbar, hatte man nur genug geübt.
Die Welt am Rosenthaler Platz sah aus wie immer. Junge Männer liefen mit Kaffeebechern herum und telefonierten, junge Mütter schoben ihre Kinderwagen durch die
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