34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
immer: Natalia ist unser Star. Das ist doch super nett, oder?«
»Du bist der Star«, sagte Ella und stieß mit Natalia an. Eine Weile aßen sie schweigsam vor sich hin, dann sagte Ella mit einem vielsagenden Blick auf Krzysztof: »Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.«
Natalia verschluckte sich fast: »Oh, Gott, ja, das tut mir leid. Das hab ich jetzt in der Aufregung ganz vergessen. O Gott, o Gott, ich weiß. Ich muss dir noch was gestehen. Jetzt kommt’s: Ich hab mir das alles nur ausgedacht. Das mit dem Friedhof, der Bedrohung und überhaupt alles. Mein Bruder hat weiße Haare, eine Erbkrankheit oder so was, genau weiß das keiner. Es gab nie einen Fremden mit weißen Haaren. Aber daran bist du ein bisschen selbst schuld. Ich dachte, wenn ich dir nicht auch irgendeine spannende Geschichte erzähle, dann kommst du nicht wieder. Und ich wollte doch unbedingt mit dir befreundet sein. Ich hab mir also eine Art Krimi überlegt, damit du bei der Stange bleibst und wissen willst, wie’s weitergeht. Das hab ich mir im Fernsehen abgeschaut, und dann hat’s sich irgendwann verselbständigt, und dann konnte ich es nicht einfach wieder auflösen, weil ich so einen Schiss hatte, dass du mich für eine Lügnerin hältst und nichts mehr mit mir zu tun haben willst, wo ich doch schon nicht in der Uni war und keine Bücher lese und so. Aber heute, heute kannst du mir nichts übel nehmen, stimmt’s?«
»Was?«, fragte Krzysztof. »Um was geht’s hier? Ich verstehe kein Wort.«
»Um dich geht’s hier gar nicht, Krzysztof, halt den Mund!«
Krzysztof machte eine abschätzige Handbewegung und drehte sich weg.
Ella schaute Natalia fassungslos an: »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Und was war das dann mit unserem Blitzbesuch in deiner Wohnung?«
»Ach so, das, na ja, da hast du mit dem Weißhaarigen angefangen. Da hab ich kein Wort von ihm gesagt. Da hatte ich wirklich Schiss, dass ich vergessen hatte, meine Kohle zu verstecken. Denn es gibt zwei, drei Leute aus Krakau, die einen Schlüssel zu meiner Wohnung haben und sie benutzen, wenn sie auf der Durchreise sind. Sie hatten mich frühmorgens angerufen und gefragt, ob sie ein paar Stunden in meiner Wohnung pennen können, und zuerst hab ich mir nichts dabei gedacht, weil die das ja öfters machen, aber dann bekam ich plötzlich totale Panik, weil ich nicht mehr wusste, ob ich das Geld aus Versehen auf dem Küchentisch liegen gelassen habe. Die Jungs sind nicht ohne, und wenn die fünftausend Euro in die Hände bekommen, dann kann man die ihnen nicht so schnell wieder abnehmen. Und als sie dann nicht mehr ans Telefon gegangen sind, was sie sonst immer machen, dachte ich plötzlich: Na, wunderbar, jetzt haben sie mein Geld geklaut. Und deswegen musste ich dahin. Mit dir. Denn wenn es brenzlig geworden wäre, hättest du Hilfe holen können.«
Ella schüttelte den Kopf: »Ich glaube es nicht.«
»Bitte, Ella, sei jetzt nicht sauer. Ich hab für dich gesungen.«
»Und du erzählst mir, dass du dir aus deinem Leben keinen Reim machen kannst? Du bist ein Profi! Ein gottverdammter Profi!«
»Nicht fluchen!«, sagte Natalia. »Das macht man nicht.«
»Du hast recht«, sagte Krzysztof nun verschmitzt. »Meine Schwester ist ein Profi, und bald ein Profi mit professioneller Oberweite.« Und während er das sagte, formte er mit seinen Händen zwei Halbkreise vor seiner Brust.
Ella schaute Natalia ungläubig an.
»Na, glaubst du, ich will ewig im Kirchenchor singen? Sicher nicht. Ich hab’s dir doch gesagt: Sie sagen, ich hab das Zeug zum ersten Sopran. Und wenn ich dann auch noch die richtigen Dinger dran habe, dann…«
»Dann?«
»Ella?«
Ella schaute sie fragend an.
»Ich habe heute nur für dich gesungen. In einer Kirche, in einer vollbesetzten Kirche. Jeder einzelne Ton war für dich«, sagte Natalia.
»Das war eines der schönsten Geschenke, die ich je bekommen habe«, sagte Ella, »und noch was: das mit dem Krimi, das hat ziemlich gut funktioniert.«
Natalia strahlte sie an, zuckte mit den Schultern, fuhr ihrem Bruder durch das weiße Haar, riss ihre Augen auf und rief: »Buh!«
Auf dem Nachhauseweg dachte Ella, dass der Weißhaarige aus Natalias Erzählungen eine jener Figuren war, auf die man gebannt starrt, während am Bildrand das wirklich Spannende abläuft. Und genauso war es mit Natalias Brüsten, und wenn sie jetzt so darüber nachdachte, vielleicht auch mit Horowitz’ Meer.
26
Ein paar Tage nach dem Besuch bei seiner Schwester kam
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