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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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erste Lied anstimmte und der Kirchenchor zu singen begann, zeigte Krzysztof auf die Sänger, die sich auf der Empore erhoben hatten: »Siehst du? Da ist sie.«
    Und tatsächlich, mitten zwischen all den Frauen in dunkelblauen Strickpullovern und roten Jacken stand Natalia in einem pinken Abendkleid, sang aus voller Kehle und strahlte stolz über das ganze Gesicht. Ihr Haar war wieder blond, platinblond diesmal, und in einer wilden Tolle auf die linke Seite gesprayt. Als Ellas Blick sie traf, ließ sie einmal kurz ihr Notenblatt los, um ihr zu winken, dann richtete sie ihren Blick wieder in das Kirchenschiff und bewegte ihre stark geschminkten und geblähten Lippen, so gut es eben ging. Die operierten Lippen, die platinblonde Tolle, die Schminke und das Abendkleid wirkten vollkommen deplatziert, und trotzdem schien das niemanden zu stören. Ein-, zweimal konnte Ella Natalias Stimme heraushören, weil Natalia lauter sang als die anderen, und sie war hell und klar und traf jeden Ton.
    Als das Lied zu Ende war, setzten sich alle hin, nur Natalia blieb stehen und betrachtete die vollbesetzte Kirche, die ihr nun zu Füßen lag. Ella meinte, aus dem Glanz in Natalias Augen lesen zu können, wie sehr sie ihren Auftritt genoss und wie wenig sie ihn in den Mauern dieser Wilmersdorfer Kirche beließ. Kurz bevor Natalia sich wieder setzte, verbeugte sie sich einmal. Zwischen den Liedern tuschelte sie mit der älteren Dame mit Dutt und Brille neben ihr und zwinkerte der jungen Frau vor ihr zu. Sie betete mit geschlossenen Augen und schaute gebannt und mit zärtlichem Blick dem Priester beim Abendmahl zu. Nach jedem Lied blieb Natalia als Einzige stehen, und auch daran schien sich niemand im Chor zu stoßen.
    »Sie ist der Star, siehst du? Sie hat so viel geübt«, flüsterte Krzysztof hinter vorgehaltener Hand. »In letzter Zeit hat sie nur noch geübt. Sie meinte, sie hat dir das versprochen.«
    Die Messe ging dem Ende zu. Krzysztof vollzog neben ihr seine kirchlichen Handlungen – genauso routiniert und zärtlich wie seine Schwester. Es war sogar noch beruhigender, jemandem dabei zuzusehen, wie er seinen Glauben praktizierte, als jemandem, der ein Handwerk ausübte. Sie kannte niemanden, der das tat. Warum eigentlich nicht?
    Als der Gottesdienst nach einem letzten Lied und Glockengeläut beendet war, lotste Krzysztof sie in ein kleines Café. Er war jetzt wortkarg und schien ein wenig aufgeregt.
    »Sie kommt gleich«, sagte er immer wieder, »sie muss sich nur kurz noch verabschieden, dann kommt sie.«
    Dann erschien Natalia in einer schwarzen Daunenjacke über dem Abendkleid und umarmte Ella stürmisch. Sie rauschte in das Café wie eine Diva aus einem Trash-Film.
    »Na, wie war ich?«, fragte sie und drehte sich einmal um die eigene Achse.
    »Ich bin sprachlos«, sagte Ella. »Du singst! Du kannst wirklich singen!«
    »Hast du mir das etwa nicht geglaubt?«
    »Hm«, sagte Ella, »ehrlich gesagt, war ich mir da nicht so sicher.«
    »Du spinnst! Glaubst du, ich mache das alles ohne Peilung?«
    »Nein, nein«, sagte Ella, »nur mit einer sehr speziellen…«
    Natalia und Ella lachten.
    »Und weißt du, was das Beste ist? Die sagen, ich hab das Zeug zum ersten Sopran.«
    Ella lächelte Natalia an.
    »Das hab ich alles dir zu verdanken, Ella. Das mit dem Kirchenchor war deine Idee.«
    »Wirklich?«, fragte Krzysztof.
    »Wirklich«, sagte Natalia zu ihrem Bruder. »Sie hat mir das Leben gerettet, das hab ich dir doch erzählt, und dann hat sie mir auch noch das Versprechen abgerungen, in einem Kirchenchor anzufangen.«
    Wie kommt sie denn darauf?, dachte Ella.
    Sie tranken Sekt und bestellten Frühstück.
    »Heute wird gefeiert!«, sagte Natalia. »Wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin, wenn ich singen kann. Es gibt wirklich nichts, was mich glücklicher macht. Und dann auch noch diese ganzen netten Leute im Chor. Die sehen zwar aus wie scheintot, hast du gesehen? Auch die Jüngeren haben null Farbe im Gesicht. Heute vor der Aufführung hab ich’s wieder versucht mit Lippenstift und Rouge, ich hatte mein ganzes Zeug dabei, aber keiner wollte was haben. Aber die sehen nur so langweilig aus, sind eigentlich super nett. Nach den Proben gehen wir immer noch was essen, und ein paar von denen haben mich auch schon zu sich nach Hause eingeladen, und da gab’s dann Kuchen, selbstgebackenen Kuchen. Ich singe jetzt zweimal in der Woche, und einsam bin ich auch nicht mehr so. Keiner schämt sich für mich, im Gegenteil, sie sagen

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