34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Ella gerade noch verkraften, aber eine Schwester, die selbst anämisch noch Nachwuchs ausbrütete, war einfach zu viel. Wie konnte man nur ein Kind nach dem anderen bekommen, selbst wenn man krank war? Und wie konnte man mit einer Schwester leben, die am laufenden Band Realität produzierte?
Dann kam das Essen und das Reden – Jasmin und Leo in verteilten Rollen. Und wieder beschleunigte sich der Abend und überholte sie. Paul übernahm das Nachfragen und Zustimmen und Nicken.
Zum Nachtisch gab’s Eis. Vanille und Schokolade. Jasmin löffelte zuerst das Weiße, dann das Schwarze, und Ella verrührte die Kugeln.
»So sind wir: ich ordne, sie vermischt«, sagte Jasmin. »Und wisst ihr, was das Schreckliche daran ist? Je mehr sie vermischt, desto mehr ordne ich. Und es wäre so schön, wenn es mal…«
»…anders wäre«, setzte Ella den Satz fort.
Ella und Jasmin schauten sich lange an, und plötzlich blieb der Abend stehen.
Ella trank schweigend ihr Weinglas leer. Dann stand sie auf und flüsterte Paul ins Ohr, dass sie auf dem Balkon mit ihm eine rauchen wolle.
»Rauchst du?«, fragte Jasmin.
»Paul raucht«, sagte Ella und schaute Paul an.
»Paul raucht«, sagte Paul und folgte Ella auf den Balkon.
Draußen war es eiskalt. Ella schob ihre Hände unter Pauls Pulli und küsste seinen Hals, dann stellte sie sich hinter ihn, drückte sich an ihn und steckte ihre Hände in seine Hosentaschen.
»Du rauchst ja gar nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Schon seit Jahren nicht mehr«, sagte Paul und legte seinen Kopf in den Nacken. »Wollen wir auch ein Kind?«, fragte er dann.
Ella stockte der Atem. Sie zog ihre Hände aus seinen Taschen, blieb eine Weile mit gesenktem Blick auf dem Balkon stehen und ging wieder hinein.
Paul kam kurz darauf mit regungsloser Miene hinterher.
Jasmin brachte Kaffee und erzählte, wie Leo sich das Rauchen abgewöhnt hatte. Ella und Paul tranken Kaffee.
Als sie sich verabschiedeten, flüsterte Jasmin Ella ins Ohr: »Meine Werte haben sich stabilisiert. Alles hat sich stabilisiert. Und ein weiteres Kind wird auch Leo stabilisieren.«
Ella schaute sie fassungslos an, aber gleichzeitig stiegen ihr die Tränen in die Augen, und sie hielt ihre Schwester fest an der Hand.
Dann war Leo an der Reihe, er verabschiedete sich, und als sie schon aus der Tür waren, sagte er: »Was hältst du eigentlich davon, dass eure Mutter mit diesem Horowitz Richtung Portugal aufbrechen will? Ich meine, Horowitz kann noch nicht einmal Auto fahren, hat eure Mutter jedenfalls behauptet, und Jasmin bezweifelt, dass eure Mutter noch sicher genug fährt nach all den Jahren ohne Übung. Wenn das mal gutgeht… Wieso müssen sie auch mit dem Auto fahren?«
Ella starrte Leo mit offenem Mund an. Was hatte er da gerade gesagt?
»Das ist ein Schock, oder? Ich mache mir auch wirklich Sorgen«, sagte Jasmin. »Als sie mir das vor ein paar Tagen erzählt hat, hab ich ihr zwar zugeraten, aber da wusste ich noch nichts von dem Plan mit dem Auto. Vielleicht kannst du mal mit ihr sprechen?«
Ella war kreidebleich, sie stotterte nur: »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen? Ist das alles, was dir dazu einfällt?«, fragte Jasmin.
»Ich melde mich morgen.«
Paul und Ella gingen die Treppen hinunter. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass Horowitz deine Mutter kennt«, sagte Paul.
»Ich wusste von nichts«, sagte Ella, »ich wusste nur, dass er meine Mutter einmal kurz gesehen hat, zufällig, mehr wusste ich nicht. Er hat mir versprochen, dass er sie nicht in meine Wohnung lässt, und jetzt will er mit ihr verreisen? Ich kann es einfach nicht glauben. Warum hat er mir das nicht erzählt? Warum hat sie mir das nicht erzählt? Warum erzählt mir niemand irgendwas? Warum sagt meine Mutter das meiner Schwester und nicht mir? Ich verstehe das alles nicht, es ist alles so undurchschaubar. Meine Schwester scheint wieder gesund zu sein, und Leo tut, als hätte es nie eine Krise gegeben, und du, du warst auch ganz furchtbar heute Abend, dieses ganze Nachfragen und Zustimmen und Essen und Weintrinken, und all diese schrecklichen Sachen, aber ich danke dir dafür.«
Paul schaute sie an, zog die Augenbrauen hoch und schloss die Autotür auf.
»Deine Schwester ist wieder gesund? Darüber hab ich heute auch die ganze Zeit nachgedacht, hab mich aber nicht getraut zu fragen, das ist ja wunderbar.«
»Ja, ist es ja auch«, sagte sie und seufzte. »Paul? Darf ich heute Nacht bei dir schlafen, auch wenn du all diese
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