34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
ihr umgehen konnte; sie dachte daran, dass die fünfte Schwangerschaft für Jasmin viel zu gefährlich war, und daran, dass nicht einmal Jasmin das Leben erzwingen konnte.
Nach einer Weile sah sie weit vorn einen Wagen entgegenkommen. Die gelben Kreise der Lichter zerflossen auf der Windschutzscheibe und wurden immer greller und größer. Der Wagen schien sich schubartig zu nähern: Mal dachte Sibylle, er stünde, dann näherte er sich plötzlich wieder in einer rasenden Geschwindigkeit. Die Geräusche des Regens draußen und des Motors und der Lüftung drinnen wurden ganz leise, und Sibylle hörte Horowitz’ schweren Atem. Die Scheibenwischer schaufelten gelbe Spiralen von links nach rechts und wieder zurück, und die Reifen glitten über den Asphalt wie über pechschwarze Seife. Sibylle schloss die Lider im Takt der Scheibenwischer, die immer träger wurden und nun kaum noch gegen den schweren schwarzen Regen ankamen. Dann legte sie ihren Kopf zur Seite und schaute zu Horowitz hinüber, der just in diesem Moment seine Augen öffnete und sie mit einem Lächeln anblickte. Glücklich sah er aus, dachte sie, glücklich und zufrieden. Sie würde jetzt eine Pause machen, endlich eine Pause machen, nach all den Jahren, dachte sie, und ihre Hände sanken in ihren Schoß.
28
Die Nachricht vom Unfall ihrer Mutter weckte Ella am Weihnachtsmorgen auf Portugiesisch.
Bis sie realisiert hatte, um was es ging, hatte sie mit geschlossenen Augen den weich klingenden Lauten gelauscht und ab und zu etwas vor sich hin gebrummt. Sie war zunächst davon ausgegangen, dass sich jemand am anderen Ende der Welt verwählt hatte. Doch der Mann mit der tiefen Stimme wechselte plötzlich in ein hartes Englisch und übersetzte den morgendlichen Sprech-Fado in stolpernde englische Fakten: Ihre Mutter habe östlich von Lissabon einen Unfall gehabt. Ihr Wagen sei auf einer Landstraße in der Nähe von Évora frontal mit einem anderen Fahrzeug zusammengestoßen. Sie befände sich jetzt dort in einem Krankenhaus. Wie schwer sie verletzt war und ob Horowitz noch am Leben war, könne er ihr nicht sagen.
Ella ging ins Bad und übergab sich.
Dann buchte sie einen Flug für den frühen Nachmittag. Sie duschte, zog sich an und kaute auf einer Scheibe Brot, die sich in ihrem Mund häppchenweise vermehrte. Sie hängte große bunte Glaskugeln an den Weihnachtsbaum, der mit seinen ausladenden Ästen die Hälfte des »großen Salons« füllte. Sie steckte die Bienenwachskerzen in die silbernen Halter, packte die Geschenke ein, band große, seidige Schleifen darum, beschriftete die Päckchen mit Namen und verteilte sie unter dem Baum. Sie deckte die lange Tafel in Horowitz’ Esszimmer, räumte die Nagelbretter in den Schrank, verteilte Plätzchen, rote Äpfel, Nüsse und Mandarinen zwischen den Gläsern und legte Wunderkerzen auf die Teller. Sie bereitete das Abendessen vor, dekorierte mehrere silberne Platten für die Karpfen, die nebeneinander aufgereiht im Kühlschrank lagen. Auf dem Küchentisch, im Bad, auf den Regalen, den Kommoden, überall stellte sie Kerzen auf und hinterließ bunt bestreute Zuckerkringel für die Kinder.
Dann saß sie im Flugzeug nach Lissabon. Als ihr Sicherheitsgurt einrastete, atmete sie das erste Mal aus und schaute sich verwundert um. Ihre Sitznachbarin fing ihren Blick auf und fragte, ob sie auch zu ihrer Familie nach Hause flöge. Ella nickte, wendete den Kopf ab, schaute aus dem Fenster und begann zu weinen. Die Tränen rannen ihr links und rechts über die Wangen. Sie griff nach der kleinen Papiertüte, die vor ihr aus der grün-blau gemusterten Sitztasche ragte. Bilder von schweren Verkehrsunfällen schossen ihr durch den Kopf und schlugen in ihrer Magengrube ein. Sie durfte nicht darüber nachdenken, wie es weiterging, wenn ihre Mutter diesen Unfall nicht oder nur schwer verletzt überlebte. Sie musste sich zusammenreißen. Sie faltete die Papiertüte zusammen.
Und da fiel ihr plötzlich ein, dass sie Paul keinen Brief hinterlassen und ihrer Schwester nichts vom Unfall ihrer Mutter erzählt hatte. Sie musste so sehr damit beschäftigt gewesen sein, in dieses Flugzeug zu gelangen und sich zusammenzureißen, dass sie es vergessen hatte. Sie war auf dem Weg zu ihrer Mutter, die in einem portugiesischen Krankenhaus lag, doch das, so wusste sie, war keine Entschuldigung dafür, dass sie schon wieder einfach so verschwand. Es wäre leicht gewesen, es allen zu erzählen. Warum bloß hatte sie es nicht getan? Sie atmete
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