34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
tief durch und schloss die Augen. Doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, tauchten Bilder von abgeriegelten Unfallorten, auf dem Rücken liegenden Fahrzeugen und Massenkarambolagen auf. Sie öffnete die Augen wieder.
Das Flugzeug startete. Es gab kein Zurück mehr. Sie war gegangen, ohne sich verabschiedet zu haben, sie hatte die Kinder um ihr Weihnachtsfest gebracht, sie hatte Paul maßlos enttäuscht und sich selbst auch.
Ellas Sitznachbarin fragte sie nun, ob’s ihr nicht gutgehe. Ella schüttelte den Kopf und zerknüllte die Papiertüte in ihrer Hand. Sie verstand nicht, warum sie so war, warum sie jetzt schon wieder floh; sie verstand nicht, warum sie nicht wenigstens einmal in ihrem Leben einen klaren Schnitt setzen konnte. Sie verstand nicht, warum sie Paul das antun musste und ihrer Schwester. Sie verstand das alles einfach nicht. Und ihre Mutter lag im Krankenhaus.
Die Stewardess kam mit dem Getränkewagen. Ella trank ein Glas Wasser, und ihre Sitznachbarin fragte, ob es ihr jetzt bessergehe. Und es ging ihr tatsächlich ein bisschen besser. Ella nickte, wischte sich die Tränen von den Wangen, atmete ein und fragte: »Ist Lissabon denn schön?«
Die Nachbarin erzählte ihr erleichtert von der Festung, den gekachelten Bars, dem kleinen, steilen Bähnchen und dem tintenblauen Reisgericht, und Ella überlegte, ob sie Paul nicht doch gleich nach der Landung anrufen und ihm alles erklären und ihn fragen sollte, ob er nicht nachkommen wolle, um mit ihr tintenblauen Reis zu essen. Doch wahrscheinlich hatte Paul keinerlei Sinn für tintenblauen Reis, wenn er erfuhr, dass sie bereits in Lissabon war und er heute ohne sie ein Weihnachtsfest herstellen musste, das keines mehr war, weil sie es in der Mitte auseinandergerissen hatte – als wär’s aus Papier.
»Ich mag leider keinen Tintenfisch«, sagte Ella und schaute wieder aus dem Fenster.
»Das ist schade«, antwortete ihre Sitznachbarin, die wirklich eine sanfte Stimme und Verständnis für alles Mögliche zu haben schien.
In Lissabon kaufte Ella noch schnell eine Tüte Süßigkeiten für ihre Mutter und fuhr mit dem Zug nach Évora.
Ella klopfte an die Tür des Krankenzimmers, in dem ihre Mutter liegen sollte, aber niemand antwortete. Sie klopfte noch einmal, wartete einen Moment und trat dann ein. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
»Sibylle?«, rief sie leise, obwohl sie schon beim Öffnen ahnte, dass ihre Frage nicht beantwortet werden würde. Die Stille menschenleerer Räume schlug ihr förmlich entgegen. Sie stellte ihren Koffer ab und ging die paar Schritte, die es brauchte, um von dem kleinen Flur an die Wandkante zu gelangen, hinter der das Krankenbett stehen musste. Und dann sah Ella das Bett, die Decke, das Kopfkissen und die große, schwarze Sonnenbrille auf dem Nachttisch. Ihre Mutter war nicht mehr da.
Die Tüte mit den Süßigkeiten glitt ihr aus der Hand, und die Bonbons kullerten über den gekachelten Boden. Ella unterdrückte einen Schrei und stolperte rückwärts aus dem Zimmer heraus, dann drehte sie sich um und lief den langen Gang entlang, bis sie endlich eine Krankenschwester fand, die aber kein Englisch sprach. Ella versuchte mit Händen und Füßen, aus ihr herauszubekommen, was das leere Bett und die Sonnenbrille auf dem Nachttisch zu bedeuten hatten und wo ihre Mutter sich jetzt befand. Doch die Schwester schüttelte immer nur den Kopf und schaute betrübt. Als Ella es aufgab und sich anschickte, in das Zimmer zurückzukehren, sagte die Schwester stockend: »Sorry for you.«
Was sollte das heißen? Sie musste mit einem Arzt sprechen.
Ella eilte durch die verwaisten Gänge. Niemand da. Es war Weihnachten, dachte sie. In Évora war auch Weihnachten –genau wie in Berlin.
Ella ging zurück in das Krankenzimmer. Der ganze Boden war von Bonbons in buntem Glanzpapier übersät, so als wären sie die letzten Zeugen einer großen Feier. Ella kniete sich auf die Kacheln und versuchte, die Bonbons wieder aufzusammeln. Doch kaum hatte sie sich nach unten gebeugt, wurde ihr wieder schlecht. Sie rannte aufs Klo und übergab sich erneut.
Auf dem Waschbeckenrand lagen der Waschbeutel und das kleine, bestickte Schminktäschchen ihrer Mutter. Ella öffnete den Waschbeutel, nahm mit zittrigen Händen zwei der bunten, strassbesetzten Schmetterlingskämme heraus und steckte sie sich ins Haar. Dann schaufelte sie sich Wasser ins Gesicht, trocknete sich ab und setzte sich an den Bettrand. Neben der Sonnenbrille auf dem Nachttisch lagen ein
Weitere Kostenlose Bücher