34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
gestanden hatte, dort unter den Locken ihrer Mutter begraben war und vielleicht seinen Frieden finden konnte.
Da ging die Tür erneut auf und ein Team von Ärzten und Schwestern kam ins Zimmer. Sie baten Horowitz und Ella, der Patientin nun Ruhe zu gönnen. Ella verabschiedete sich von ihrer Mutter, und Horowitz flüsterte Ella ins Ohr: »In Évora soll es ein altes Grandhotel geben. Sollen wir da solange hingehen und einen Kakao trinken? Aus einer Silberkanne mit Keksen auf einer Etagere und allem Drum und Dran? Heute ist immerhin Weihnachten.«
Ella lächelte Horowitz an und nickte.
Dann zog sie die Tür ins Schloss und ließ die Station, in der ihre Mutter lag, die kargen Gänge und den weihnachtlich geschmückten Empfangsbereich hinter sich. Als Ella und Horowitz schließlich vor dem Krankenhaus standen, sagte Horowitz: »Sie muss beim Fahren eingeschlafen sein.«
»Als das Krankenhaus mich heute Morgen anrief, hatte ich solche Angst, dass sie tot ist«, sagte Ella, »und jetzt ist sie wie immer.«
»Ja, das erstaunt mich auch. Sie scheint überhaupt nicht erschüttert, aber vielleicht zeigt sie es nur nicht. Es war wirklich haarscharf. Mich hat das bis ins Mark erschüttert. Und wissen Sie, was am meisten? Dass mein Leben fast an dem Punkt zu Ende gegangen wäre, an dem ich ihm das erste Mal seit Jahren wieder nah war. In der Sekunde, bevor es knallte, haben Ihre Mutter und ich uns noch einmal angesehen, und wissen Sie, was ich da gedacht habe? Ich dachte mir, dass ich glücklich bin und nicht einmal weiß, warum. In diesem Moment gab es für mich keinen anderen Ort als dieses alte Auto, und ich wäre am liebsten ewig so weitergefahren. Die reine Gegenwart, und dann knallte es, genau dann knallte es«, sagte Horowitz.
Ella schaute ihn an.
»Vielleicht stimmt das auch alles gar nicht, und mein Gehirn, oder was auch immer, projiziert das nachträglich in die Situation hinein, aber…«
»…das ist vollkommen gleichgültig«, sagte Ella.
Horowitz lächelte sie an.
»Sind Sie eigentlich nach Portugal gefahren, weil dort das Meer so sehr Meer ist wie nirgendwo anders in Europa?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber wissen Sie was? Auch das ist erstaunlich. Der Wunsch, das Meer zu verstehen und es zu bereisen, hat sich in Luft aufgelöst, ob Sie es glauben oder nicht.«
»Und was machen Sie jetzt?«, fragte Ella.
»Ich kümmere mich um all das hier, warte, bis Ihre Mutter wieder reisefähig ist, dann fliegen wir zurück nach Berlin und schauen, wie alles weitergeht. Und Sie?«
»Soll ich bleiben?«, fragte Ella.
Horowitz antwortete nicht.
Sie bestiegen ein Taxi und fuhren in das Grandhotel. In der Eingangshalle stand ein Weihnachtsbaum mit elektrischen Kerzen und pastellfarbenen Figuren, die mit Kunstschnee bestäubt waren. Horowitz und Ella setzten sich in zwei dunkle, samtige Sofas, tranken Kakao aus einer Silberkanne und aßen Kekse von einer silbernen Etagere. Und als sie sich verabschiedeten, fragte Ella: »Können Sie meiner Mutter vielleicht ausrichten, dass ich weiß, dass sie mich damals im Krankenhaus besucht hat?«
»Natürlich«, sagte Horowitz lächelnd. »Fliegen Sie denn heute schon wieder nach Berlin?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte Ella, »Sie brauchen mich hier ja nicht mehr, also fahre ich jetzt wohl nach Lissabon zurück. In Berlin kann ich mich so schnell nicht mehr blicken lassen…«
Als Ella in Lissabon aus dem Zug stieg, hatte sie keine Ahnung, wohin das alles führen sollte. Doch dann nahm sie ihren Koffer, ging zum Ausgang und trat durch das große Bahnhofsportal auf die Straße. Kaum war sie im Freien, kam Wind auf, und der Geruch der fremden Stadt wehte ihr entgegen.
29
Ellas Anruf erreichte Paul am zweiten Weihnachtsfeiertag.
»Rate mal, wo ich gerade stehe?«, fragte sie.
Paul schwieg.
»Und rate mal, was ich gerade mache?«, fragte sie.
»Ella? Du bist einfach abgehauen. Du hast unser Weihnachtsfest ruiniert.«
»Ich weiß, Paul, ich weiß, aber ich kann dir das alles erklären. Meine Mutter hatte einen Unfall, deswegen musste ich so plötzlich nach Portugal.«
»Du bist in Portugal?«
»Hm.«
»Deine Mutter hatte einen Unfall?«
»Nicht so schlimm, mach dir keine Sorgen, Horowitz passt auf sie auf, aber das wusste ich vorgestern noch nicht. Da dachte ich noch, sie wäre… Glaub mir, ich konnte euch das nicht erzählen, weil ihr sonst alle ganz trübsinnig gewesen wärt. Aber natürlich hätte ich es euch erzählen müssen, und das
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