34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
tut mir auch leid, Paul, wirklich, ich weiß, dass ich da einen großen Fehler gemacht habe, aber es war Weihnachten, und an Weihnachten darf man nicht trübsinnig sein, schon gar nicht mit all den Kugeln und Karpfen. Und deshalb bin ich einfach so gefahren, ohne ein Wort zu sagen. Aber jetzt bin ich hier und hab deine Schlafbrille in der Hand, und ihr Samt ist hier noch weicher und ihr Türkisblau leuchtet noch viel mehr. Und jetzt hab ich gerade ein Brötchen gekauft und frühstücke es vor einem Schaufenster, aus dem es nur so herausfunkelt«, sagte sie, »Paul? Bist du noch da?«
»Frühstück bei Tiffany«, sagte Paul mit einer erschöpften Stimme.
»Ha! Genau«, sagte Ella. »Und es regnet in Strömen, aber das macht ja den Diamanten nichts, die funkeln bei Regen oder Schnee, die funkeln durch alles hindurch, jedes Wetter, jeden Trübsinn, jede noch so dicke Schicht. Und weißt du, warum? Sie können nicht anders.«
»Ella? Wie kommst du dazu, mir was von Diamanten zu erzählen, nachdem ich gerade ein Weihnachtsfest stemmen musste mit deiner Schwester und allen ihren Kindern und diesem Langweiler Leo, der mich behandelt, als wäre ich sein Schwiegersohn, und meinem Sohn, dem den ganzen Abend die Enttäuschung über deine Abwesenheit ins Gesicht geschrieben stand, den ganzen verdammten Abend lang?«
Ella schwieg.
»Glaubst du, nach all dem kannst du einfach hier anrufen und mir was von Diamanten erzählen, die durch dicke Schichten hindurch funkeln, weil sie nicht anders können?«
Ella schwieg.
Paul schwieg.
Dann sagte Ella zögerlich: »Ein bisschen glaube ich das schon, um ehrlich zu sein, ein bisschen muss ich das ja glauben. Und weißt du auch, warum? Weil ich auch nicht anders kann und weil ich es so genau vor mir sehe – in jeder Facette. Ich weiß, wie du riechen würdest, ich weiß, wie du laufen würdest, ich weiß, wie du mich küssen würdest, wie du schauen würdest, ich weiß einfach, wie wir hier nebeneinander durch die Straßen gehen würden, wenn du jetzt hier wärst. Wir könnten doch ein paar Szenen aus Frühstück bei Tiffany nachspielen, wir könnten auch was stehlen in einem Kaufhaus mit doofen Masken vor dem Gesicht wie Holly und Paul, und wir könnten aus unserem Hotelfenster auf die Feuerleiter klettern. Es gibt eine Feuerleiter in unserem Hotel, sie ist wunderschön, flaschengrün lackiert, ich hab schon geschaut. Und wozu gibt es ausgerechnet in unserem Hotel so eine Feuerleiter, wenn nicht, damit wir beide auf ihr sitzen und in den Hinterhof schauen, der ganz schäbig ist und genau so, wie man sich einen New Yorker Hinterhof vorstellt? Auch wenn ich natürlich gar nicht in New York bin und auch nicht vor Tiffany stehe, sondern vor irgendeinem portugiesischen Juwelier, aber das ändert ja nichts, oder? Wir könnten trotzdem auf der Feuerleiter sitzen und in die anderen Fenster schauen und raten, was für Leben sich dahinter abspielen.« Sie machte eine Pause, dann: »Paul? Sagst du gar nichts?«
»Nein«, sagte Paul.
»Du bist immer noch böse auf mich, und zu Recht, aber was hätte ich denn tun sollen? Wäre es besser gewesen, wenn ihr gewusst hättet, dass meine Mutter einen Unfall hatte? Wäre das dann ein schöneres Weihnachten gewesen?«
»Darum geht es nicht, Ella.«
»Ja, ich weiß auch, dass es darum nicht geht, aber das, worum es geht, ändert sich doch ständig, und dann verliere ich es wieder aus den Augen, oder vielleicht gibt es das auch gar nicht, und außerdem regnet es jetzt gerade wirklich extrem stark, eigentlich genauso wie in dem Film am Ende.«
»Wir sind nicht in einem Film.«
»Ja, da hast du schon wieder recht, obwohl nicht ganz eigentlich, weil du dir das Holly-Thema selbst eingebrockt hast. Du hast damit angefangen, du hast mir die Schlafbrille geschenkt, und du heißt Paul, genau wie Hollys Freund. Ich fühle mich ja gar nicht so sehr wie Holly, und ich habe auch keinen Kater, den ich einfach auf die Straße setzen würde. Selbst wenn ich einen Kater hätte, würde ich ihn niemals einfach so auf die Straße setzen. Paul, bitte, ich hab nur deine Schlafbrille und meine Wünsche, mehr hab ich wirklich nicht, und deswegen darfst du mir das nicht übel nehmen, auch nicht, wenn ich mir jetzt wirklich so sehr wünsche, dass du nicht mehr böse bist, und dass wir auf der flaschengrünen Feuerleiter sitzen und uns küssen und uns dabei Geschichten ausdenken – aber das willst du ja vielleicht alles gar nicht hören.«
Es knackte in der
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