34° Ost
bevor Leč Einhalt gebot. Draußen wußten nur Deborah und Sergeant Robinson, die einzigen von den Geiseln, die schon früher Guerillaaktionen miterlebt hatten, was vorging. Die übrigen Gefangenen begriffen es erst, als hinter den Mauern die Klagegesänge der Mönche ertönten.
Rasch waren die überlebenden Mönche, alles verängstigte Greise, zusammengetrieben und unter Bewachung gestellt. Die Abu Mussa hatten das Kloster und das felsige Tal am Fuß des Berges völlig in der Gewalt. Als die Gefangenen aus den Lastwagen in den Bau gebracht wurden, hörte Deborah wieder das ferne Geräusch einer Düsenmaschine, es kam irgendwo vom Osten, jenseits des Tales, aber sie konnte nichts am Himmel sehen als die verblassenden Gestirne.
Sie wurde von den anderen getrennt und in einen kreuzförmigen Raum eingesperrt, der aus der massiven Mauer ausgehöhlt worden war. Durch ein einziges, hoch angebrachtes Fenster, ursprünglich nur eine Schießscharte, fiel das graue Licht der Morgendämmerung in die Zelle. Wenn sie sich auf das einzige Möbelstück stellte, einen schadhaften Holztisch, dann sah sie über den verschachtelten Dächern die Basilika, dahinter die Umfassungsmauer und die noch im Zwielicht liegenden, aufragenden Felsklippen.
Die Katharinenkirche war ein seltsamer Bau, halb in die Erde versunken und drohend wie eine Festung. Kurz nach dem Sechstagekrieg, als die israelischen Truppen im Triumph durch Sinai fuhren, hatte Deborah mit einer Gruppe von Touristen das Kloster besucht. Aber damals hatte sie es im Sonnenglanz gesehen, die Gärten und Höfe innerhalb der Mauern in voller Blüte des Wüstenfrühlings. Nun wirkte es anders, düster und verschattet, an das zackige Gesicht der Granithänge und die zerklüfteten Felswände des Hauptmassivs gedrängt. Direkt unterhalb des Fensters durchstreiften zwei bewaffnete Araber die dunklen Gartengehege auf der Suche nach Mönchen, die sich dort versteckt haben mochten und der ersten raschen Fahndung entgangen waren.
Das Kloster selbst lag noch immer im tiefen Schatten. Aber die Berge im Osten, die jenseits der Mauer steil anstiegen, wurden von den ersten schwachen Sonnenstrahlen gerötet; es war ein blasses, lebloses Licht, das sich vom Himmel zur Erde zu senken schien. Hie und da wuchsen in den Felsspalten vereinzelte Dornbüsche oder eine verkümmerte Tamariske. Jenseits der Mauer, schwarzgrün gegen die heller getönten Klippen, stand eine Reihe von Zypressen. Wie sich Deborah erinnerte, befanden sich hinter diesen Bäumen die Ställe und Werkstätten, wo die christlichen Beduinen ihre Arbeit verrichteten. Durch die Morgenstille hörte Deborah die Rufe und Flüche, als die Guerillas die verwirrten, eingeschüchterten Beduinen vertrieben. Weit oben im Tal, auf den schwindelnd steilen Hängen des Massivs, drängten sich die Schafe aus den Herden der Beduinen, vom Gewehrfeuer verscheucht, aber zu dumm, um mehr zu tun, als die Geröllhalden zu erklettern und dort nach Futter zu suchen, das es in diesen Höhen nicht gab.
Deborah setzte sich auf den Boden, den Rücken an die uralten Steinquadern der Wand gelehnt. Sie mußte sich zu klarem Denken zwingen, wie sie es während ihrer militärischen Ausbildung für den Fall schwieriger Situationen gelernt hatte. Zunächst versuchte sie festzustellen, an welchem Punkt des Klosters sie sich befand, und dazu mußte sie sich den Lageplan des Baues vergegenwärtigen. Von ihrer Zelle überblickte man den so genannten ›Garten des Heiligen Dornbusches‹. Jeder Winkel des vier oder fünf Hektar messenden Bereichs innerhalb der Mauern hatte einen eigenen Namen. Sie erinnerte sich nur an einige davon. Zwischen dem Garten und der Basilika gab es einen dreieckigen Hof. Dort stand die winzige St.-Georgs-Kapelle. Das wußte Deborah, weil dieser Trakt an das einzige Tor der Westmauer stieß. Sie schloß die Augen und versuchte sich die Zeichnung im Touristenführer ins Gedächtnis zu rufen, aber das gelang ihr nicht. Dieser Ort war ein Sammelsurium von offenen Höfen, umfriedeten Gärten, Kapellen, Heiligtümern, Pilgerherbergen, Mönchszellen, Sakristeien und wohl Hunderten unbenutzter und wahrscheinlich vergessener Räume ähnlich jenem, in dem sie nun eingekerkert war. Am Kloster wurde seit den Zeiten des Kaisers Justinian dauernd herumgebaut, und jetzt war es ein richtiges Labyrinth. Sogar die dicken Mauern waren wie Bienenwaben von Gelassen und Gängen durchwühlt. Deborahs militärische Schulung sagte ihr, dass es unmöglich war, dieses
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