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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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unübersichtliche Objekt mit weniger als tausend Mann zu besetzen. Und sie war sicher, dass die Mannstärke der Abu Mussa allerhöchstens 25 betrug. Anderseits stand fest, dass eine kleine, zum Äußersten entschlossene Gruppe, mit automatischen Gewehren bewaffnet, jeden Teil des Klosters fast unbegrenzte Zeit halten konnte. Man müßte Artillerie oder Bomber einsetzen, um die Verteidiger zu vernichten, und eine solche Aktion war aus mehreren Gründen völlig undenkbar: Erstens hatten die Araber den Vizepräsidenten der USA als Geisel, und zweitens litten die Amerikaner noch immer an Schuldgefühlen, weil sie während des Zweiten Weltkriegs die Abtei Monte Cassino zerstört hatten – sinnlos, wie sich herausgestellt hatte.
    Es war möglich, dass die Amerikaner bald kommen würden, aber sicher war es nicht. Deborah wußte auch nicht, ob sie hohe Risiken eingehen wollten. Wenn sie nur mit Infanterie und leichten Waffen angriffen, würden sie hohe Verluste haben und keine Gewähr dafür, dass sie Bailey lebendig in die Hand bekämen. All diese Ereignisse lagen in einer Entwicklung von unabwendbarer Folgerichtigkeit, seit ein Hijacker zum ersten Mal ein Flugzeug entführte und damit Erfolg hatte, dachte Deborah. Es war nicht auszudenken, von absurder Schrecklichkeit, unfasslich, aber wahr. Sie schloß die von Sandkörnern entzündeten Augen und versuchte sich halbwegs bequem zu setzen. Sie verspürte großen Durst, aber niemand hatte den Gefangenen zu trinken gegeben. Hinter der versperrten Bohlentür stand ein Araber mit seinem sowjetischen Sturmgewehr. Von Zeit zu Zeit öffnete er, blickte herein und spuckte aus. Er war ein hübscher junge, nicht älter als achtzehn, mit langem Haar und erstem Bartschatten. Einmal bat Deborah ihn um Wasser, worauf er erwiderte, für jüdische Huren sei keines da, und die Tür zuwarf.
    Sie überlegte, wohin die anderen gebracht worden waren. Vom Fenster aus hatte sie gesehen, wie Paul Bronstein und Jape Reisman in die Basilika getrieben wurden. In dem eingesunkenen Bau gab es etwa sechs kleine Seitenkapellen. Vielleicht entsprang es einer Regung von Galgenhumor, dass Leč seine Geiseln gerade dort einschloss. Er schien ein Mensch zu sein, der Vergnügen daran fand, geheiligte Räume, die uralte religiöse Kunstschätze bargen, durch Schüsse zu entweihen.
    Wieder drangen Rufe von draußen herein, und nun hörte Deborah das unverkennbare Knattern eines Hubschraubers. Sie stieg zum Fenster hinauf, sah aber nichts als ein Geviert sich langsam rauchblau aufhellenden Himmels. Das Motorengeräusch wurde lauter, es mußten mehrere sein, dachte Deborah. Mit einiger Anstrengung zog sie sich höher und versuchte, sich auf das Steinsims zu stützen, um bessere Sicht zu haben. Aber sie erblickte noch immer nichts. Offenbar näherten sich die Hubschrauber vom Osten. Das Hämmern der kreisenden Rotoren schwoll noch stärker an, als die Maschinen das Kloster überflogen, und verebbte dann rasch, bis es gänzlich erstarb.
    Das Verschwinden der Flugzeuge stürzte Deborah in noch tiefere Verzweiflung. Sie konnte sich nicht mehr am Sims halten, und als sie losließ und wieder auf den Tisch sprang, schürfte sie sich an den Quadern die Knie auf. Ein Gefühl der Verlassenheit und der Hoffnungslosigkeit erfasste sie, wie sie es nicht einmal empfunden hatte, als Dov Rabin neben ihr gestorben war. Sie dachte an Bill Tate, doch der schien unglaublich fern. Die Trennung von ihm hatte sich in jener schweigenden Endgültigkeit ihrer letzten gemeinsamen Nacht vollzogen. Es schien ihr, als sei es ihre Bestimmung gewesen, in diesem uralten Gemäuer zu sitzen, bewacht von schmutzigen Arabern. Während er woanders hingehörte, in ein helles Land mit grünen Bergen und milden Regenschauern, ein Land freier Städte, gegründet von seinen aristokratischen Ahnen, die für das aufdringliche Gewimmel der anderen hastig raffenden Zuwanderer, all dieser Europäer, Asiaten und Juden, nur stumme Verachtung hegten.
    Dieser halb geformte Gedanke war so trostlos, dass sie den Kopf an die Steinwand lehnte und zum ersten Mal seit der Gefangennahme zu weinen begann. Die Tränen zogen Streifen durch die Staubkruste auf ihren Wangen. Er wird nicht kommen, um mich zu holen, dachte sie. Vielleicht wird er kommen, um den Vizepräsidenten zu befreien, der seinem Volk angehört, aber nicht meinetwegen. Dieser plötzliche Ausbruch des Grams war völlig unvernünftig, das wußte sie. So unangreifbar die momentane Position des

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