35 - Sendador 02 - In den Kordilleren
an dem Seil festhaltend, über den Ast hinüber; dort mußte unbedingt der Eingang sein. Der Fels war auch hier mit grauen und grünen Flechten und Moosen überzogen, aus denen, wie es schien, eine dünne, verwitterte Wurzel herunterhing. Flechten haben keine solchen Wurzeln; ein anderes Gewächs gab es nicht, zu dem sie hätten gehören können, folglich war mir ihr Zweck sofort klar. Ich ergriff sie und zog an ihr – wahrhaftig, ich hörte den leisen, unterdrückten Klang eine Glocke!
Ich trat zwei Schritte zurück, um Platz für die Tür zu lassen, welche jedenfalls nach außen zu öffnen war. Pena stand dicht hinter mir; der Ast war stark genug, mehr als uns beide zu tragen.
Da wurde die Felsenwand geöffnet. Ich sah eine Holztür, deren Außenseite künstlich mit den Flechten bekleidet worden war, so daß man sie von ihrer Umgebung nicht zu unterscheiden vermochte. Sie war so hoch und breit, daß zwei Männer nebeneinander hätten eintreten können.
Der sie öffnete, war ein Indianer. Er trug lange, sehr weite Leinenhosen und eine Ärmelweste, weiter nichts. Waffen sah ich nicht an ihm. Er war überzeugt gewesen, daß ein Kamerad von ihm Einlaß begehre. Als sein Blick aber auf uns fiel, so fehlte nicht viel daran, daß er vor Schreck zusammengebrochen wäre. Er hätte alles andere eher für möglich gehalten, als das Erscheinen zweier fremder, weißer Männer da oben auf dem Baum und vor der Tür des so sorgfältig und ängstlich gehüteten Geheimnisses. Er wollte sprechen oder gar schreien, brachte aber kein Wort, keinen Laut hervor. Sein Mund stand offen; seine Augen traten weit hervor, und er zitterte am ganzen Körper.
Pena sagte einige Worte, welche ich nicht verstand, zu ihm; er antwortete nicht und starrte uns noch immer an. Da tat ich kurz entschlossen drei Schritte vorwärts, schob ihn zurück und trat ein. Pena folgte sofort.
Da endlich erhielt der Indianer die Sprache oder vielmehr seine Stimme zurück, denn was er tat, das war kein Sprechen, auch kein Schreien und Rufen, o nein! Es gibt kein Wort, welches die Töne zu bezeichnen vermag, die dieser Mann ausstieß, indem er von uns fort und in das Innere des Felsens hineinrannte. Man denke sich sämtliche Instrumente einer Militärkapelle verstimmt und dann unisono angeblasen, so hat man, nicht etwa den Ton, o nein, aber doch eine klare Ahnung des Tones, welchen der Entsetzte aus seinen Stimmwerkzeugen preßte. Und dieses Gebrüll bekam in dem engen, dunkeln Gang, in welchem wir uns befanden, eine so verstärkte Resonanz, daß man hätte meinen mögen, es schrien hundert Teufel, welche abgestochen werden sollten, um Hilfe.
„Kommen Sie rasch“, bat ich Pena. „Hier wollen wir uns nicht empfangen oder gar abfertigen lassen.“
Wir schritten, so schnell es die Finsternis gestattete, vorwärts und gelangten an eine Tür, welche ich aufstieß. Was ich erblickte, fesselte mir den Fuß, so daß ich unter der Tür stehen blieb. Vor mir lag ein kleines Stübchen, dessen Wände schwarz gestrichen und mit weißgemalten Totenköpfen ‚verziert‘ waren. Von der ebenso schwarzen Decke hingen wohl zehn oder zwölf wirkliche Totenköpfe an Schnüren bis zu Manneshöhe hernieder. Linker Hand stand ein schwarz verhangenes Gebetspult mit einem Kruzifix, zwei Totenköpfen und einem brennenden Lämpchen. Rechter Hand sah ich ein wirklich elendes Lager, nur aus harter Streu und weiter nichts bestehend. Und mir gegenüber war eine Tür gerade in demselben Augenblick aufgegangen, in welchem ich hüben die meinige öffnete, und vor mir stand ein Mann, dessen Anblick ich nie vergessen werde.
Seine lange, skelettartige Gestalt war in einen schwarzen, talarartigen und bis auf die nackten Füße reichenden Rock gekleidet. Der glänzende Schädel war vollständig kahl, ohne jede Spur von Haar. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, daß man merken konnte, man sehe sie gar nicht. Die Wangen waren so eingefallen, daß sie sich im Innern des Mundes fast berührten. Aber der starke, volle, glänzend silbergraue Bart, welcher bis auf den Gürtel niederreichte, war eine Greiseszier, die ihresgleichen suchte. Das Gesicht zeugte von unendlicher Entsagung. In den Zügen lag eine tiefe Traurigkeit, ein überwältigendes Herzeleid, für welches es keine Heilung gibt. Dies sah man, obgleich in diesem Augenblick der Zorn und die Überraschung die Oberhand über das ausdrucksvolle Mienenspiel besaßen. Er stand wie der drohende Engel des Todes unter der geöffneten Tür und
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