3,6 Millionen Schritte Himmel & Hölle - Pilgerreise auf dem Jakobsweg (German Edition)
bezaubernde Dörfer, und habe mit anfangs zu viel Gewicht auf meinen Schultern bis zur totalen Erschöpfung steile Alpenpässe in der Schweiz, das Massif Central in Frankreich, die Pyrenäen und die Berge von Leon in Spanien bezwungen.
Ich wurde im Gegenzug wieder enorm sensibilisiert für die Natur und habe sie so intensiv erlebt und genossen, wie es nur geht. Ich begegnete meinen eigenen Dämonen, die ich bekämpfen musste, begegnete aber auch Seelenverwandten und Engeln, von denen mein Vater mein Schutzengel war. Dadurch, durch die Nähe zur Natur und nicht zuletzt durch die Begegnungen mit anderen Menschen, war ich Gott wahrscheinlich näher als je zuvor.
D as hat mich gläubiger gemacht und so war ich auf dem Weg wahrscheinlich öfter in Kirchen als in meinem gesamten bisherigen Leben, um zu beten für Kraft, Mut und Selbstvertrauen. Ich wusste an den meisten Tagen morgens nicht, wo ich abends die Nacht verbringen würde und habe schließlich meistens in öffentlichen und privaten Pilgerherbergen übernachtet, die heruntergekommenen und schmutzig, aber auch wunderschön und sauber waren.
A ußerdem in Klöstern, Jugendherbergen, Zelten und im Stroh, je einmal in einem Wohnwagen und einem Hotel, auf spontane Einladung privat, zu zweit auf einer 90 x 200 cm großen Matratze in einer 3 Quadratmeter kleinen Kammer, in Aufenthalts- und Mehrzweckräumen und einige Male, auch bei Temperaturen knapp über 0°C im Schlafsack unter freiem Himmel.
In der Schweiz und in Frankreich habe ich auch einige Male für die Übernachtung und die Verpflegung gearbeitet. Ich war während des ersten Drittels meiner Pilgerreise einsamer als je zuvor in meinem Leben, so einsam, dass ich schon anfing, Selbstgespräche zu führen, hatte aber später sowohl großartige als auch weniger angenehme Begegnungen und Weggefährten, für einige Kilometer sogar je einen Hund und ein Pferd.
Es waren dauerhafte und außergewöhnliche sowie kurze und unangenehme Begegnungen mit Menschen aus Kanada, den USA, Kuba, Argentinien, Australien, Süd-
Korea, Indien, Japan, Norwegen, Dänemark, England, Schottland, den Niederlanden, Polen, Österreich, Italien, Slowenien, Litauen, Bulgarien, Ungarn und natürlich der Schweiz, Frankreich, Spanien und Deutschland. Mit diesen Menschen habe ich mich in vier Sprachen verständigt oder es zumindest versucht.
Ich habe unterwegs sowohl ätzende Fremdenfeindlichkeit als auch fantastische Gastfreundschaft erlebt. Ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft ich in dreieinhalb Monaten im Internet war, Radio gehört und ferngesehen habe (und das auch nur während der Fußball-Europameisterschaft) und ich hatte nicht das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich Musik schon manchmal vermisst habe.
Ich musste mir aggressive Hunde und Bienen vom Leib halten, wurde von Mücken, Bremsen, Fliegen, Ameisen, Wanzen und Flö hen attackiert, belästigt, gestochen, gebissen und manchmal beinahe um den Verstand gebracht. Das hätten vorher übrigens schon beinahe die Kuhglocken in der Schweiz geschafft.
Ich hatte dreieinhalb Monate lang so gut wie nie Privatsphäre, aber dafür Schlaf- bzw. Schnarchsäle mit bis zu 50 anderen Pilgern, hatte kein eigenes Bett, aber durchgelegene Etagenbetten, meinen Schlafsack und meine Isomatte, hatte keinen eigenen Kleider- oder Kühlschrank, aber meinen Rucksack, kein eigenes Bad, aber Gemeinschaftsbäder, meistens keine Waschmaschine, aber Schüsseln und Waschbecken.
Ich habe 111 Tage lang nicht mehr besessen als 2 T-Shirts, 2 Unterhosen, 2 Paar Socken, 2 Hosen, 1 Outdoor - und 1 Sweatjacke, 1 Paar Sandalen und 1 Paar Wanderschuhe und habe meine Wertsachen Tag und Nacht bei mir getragen. Ich bin barfuß und mit Sandalen, mit Lauf- und mit Wanderschuhen gepilgert und habe ein halbes Dutzend Mal oder mehr am Tag meine Schuhe und Socken an- und ausgezogen.
Ich habe wenigstens so oft auf dem Boden und mit den Händen wie an Tischen mit Besteck gegessen, alleine und in Gesellschaft , und verstehe jetzt die Botschaft des Spruches: ’If you knew the power of sharing a meal, you would never eat alone!’
Ich habe an vielen Tagen mehr Traktoren als Autos und mehr Kühe als Menschen gesehen. Ich empfand die berüchtigte Meseta nicht als langweilige und trostlose Steppe, sondern als Herausforderung, an der ich wachsen konnte. Ich habe in den Straßen von Pamplona mit einem meiner wichtigsten Weggefährten völlig
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