38 - Wiedergeborenes Scorpio
Flanke eines Tempels zwei Gestalten. Die beiden hatten offenbar ihre Tiere angebunden und waren dort hinaufgestiegen, um sich einen Überblick über das Panorama zu verschaffen. Sie saßen dicht nebeneinander und ließen die Beine baumeln. Ich sagte mir, daß Vad Leotes sicher nichts dagegen hatte, wenn ich den beiden von unten etwas zurief.
Ein Mauervorsprung verdeckte vorübergehend die beiden Gestalten, und als ich das Gebäude passiert hatte, war von ihnen nichts mehr zu sehen.
Ich spürte nicht nur Ärger. Im Grunde hatte ich nichts dagegen, selbst dort hinaufzusteigen und den Ausblick zu genießen. Ich band Schniefer an und begann den Aufstieg, der sehr leicht war.
Gewohnheitsmäßig gehe ich mit behutsamen Schritten und so leise wie möglich. Ein herabpolternder Stein lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Drei Gestalten liefen ins Freie und verschwanden in gegenüberliegenden Schatten. Ich runzelte die Stirn. Einer der Männer war Gandil der Mak, der zweite San Hargon, der dritte ebenfalls ein Kumpel Strom Hangols, ein Mann namens Nalgre der Frunicator. Voller Eile setzte ich meinen Weg nach oben fort. Ich spürte einen Klumpen in der Kehle. Bei Zair! Wenn ... Ich schlug mir den Gedanken aus dem Kopf und kletterte hastig weiter.
Als ich die Stelle erreichte, an der ich die beiden gesehen hatte, war von ihnen nichts mehr zu sehen. Ich rief: »Mevancy!«
»Kohlkopf!« rief eine Stimme direkt vor mir.
Vorsichtig betrat ich die hochgelegene Plattform und schaute über die Kante. Mevancy hing an einem schmalen Vorsprung, einer Schmuckleiste im Sturm, eine Armeslänge unter mir. Die Finger beider Hände waren um den Vorsprung gekrallt. Leotes hatte die Arme um ihre Hüften geschlungen und hing mit vollem Gewicht an ihr. Die Straße lag in tödlicher Entfernung unter den beiden. Mevancys Finger glitten ab. Viel Zeit blieb mir nicht. Sie neigte den Kopf und schaute herauf; ihr Gesicht war angestrengt verkrampft, und doch fragte sie nur: »Llahal, Kohlkopf. Kannst du etwas tun?«
Ich legte mich flach hin, steckte den Kopf über die Kante und starrte hinab. Wir waren ziemlich hoch. Ein Fehlgriff, und wir lägen zerschmettert in der Tiefe.
Beide Arme hinabstreckend, konnte ich knapp ihre Handgelenke erreichen. Als ich sie berührte, glitten ihre Finger weiter ab. Sie schnappte nach Luft. Ich spürte ihr Gewicht an mir ziehen, und mein Körper rutschte zwei Handbreit über die Plattform.
»Wir ziehen dich auch hinab!«
»Halt dich fest, Mevancy!«
»Meine Finger sind wie tot ...«
»Ich halte dich.«
»Du, Kohlkopf? Mit deinen Woflokräften?«
Wieder spürte ich, wie ich nach vorn rutschte. Ich hatte nicht die geringste Chance, die beiden hochzuzerren. In meiner Umgebung gab es nichts, wogegen ich mich hätte stemmen können.
Zum erstenmal meldete sich Leotes. »Wir ziehen uns alle in die Tiefe. Ich will nicht, daß du stirbst, Mevancy.«
Sie begriff sofort, was er meinte. »Nein, Leotes! Nicht! Es kommt bestimmt bald Hilfe ...«
»Du vergißt, daß ich ein Paol-ur-bliem bin, meine Liebe.« Er legte den Kopf in den Nacken, und ich sah seinen hochgezwirbelten roten Schnurrbart. »Mir tut nur die verschwendete Zeit leid. Wie auch immer, die Jugend wächst schnell heran, wenn es dafür einen Grund gibt.«
Ich wußte nicht, was er da plapperte. Ich wußte nur, daß mir eine denkbar schlimme Entscheidung bevorstand, wenn nicht verdammt schnell Hilfe eintraf.
Mir entrang sich eine Art heiser-schnaubendes Bellen: »Hilfe!«
Mevancy fiel sofort ein: »Hilfe!« schrie sie laut. »Hilfe dem Vad! Hilfe!«
Leotes unterbrach sie. »Wir rutschen ab. Keiner kann uns rechtzeitig helfen.«
Sie starrte zu mir herauf, und ihr Gesicht rötete sich. »Daß du es ja nicht wagst, den Vad fallenzulassen, Drajak! Daß du es nicht wagst!«
Sie mußte eine Bewegung seiner Arme gespürt haben, denn wieder erhob sie die Stimme. »Nein, nein!« rief sie außer sich. »Leotes! Nein!«
Wieder rutschte mein Körper ein Stück auf die Kante zu, die mir den Tod bringen würde.
Wenn ich nicht bald losließ, würde ich als roter Fleck in der staubigen Straße enden.
Ich spürte auch bereits, wie die Kräfte mir aus Fingern und Handgelenken wichen. Bei aller Opazschen Wahrheit – ich konnte nicht mehr lange durchhalten.
Dies las mir Leotes offenbar vom Gesicht ab.
Was er nicht sehen konnte, war das Schuldgefühl, das mich bis in alle Ewigkeit begleiten würde, denn ich wußte ohne jeden Zweifel, bei wem meine
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