40 Stunden
kreischte die Frau.
Faris begriff nicht. Sein Blick fiel auf das Smartphone, das die Explosion ein ganzes Stück weit von ihm fortgeschleudert hatte. Kurz schaute er zu der Kamera auf, die in ihrer Nische von der Druckwelle verschont geblieben war. Die schwarze Kameralinse starrte Faris ausdruckslos an. Er ignorierte das Geschrei der Frau und blendete auch alle anderen Geräusche aus, während er sich ganz auf das Telefon konzentrierte. Das Display leuchtete durch den Staub, der sich nur langsam zu setzen begann. Der Weg bis zu dem Gerät erschien Faris weiter als der zum Mond, doch er schaffte es, dorthin zu taumeln, sich zu bücken und es aufzuheben.
» Und als sie gebetet hatten«, hörte er die verzerrte Stimme des Anrufers, » da erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren. Das, Faris, ist der erste Teil des Bibelzitats, von dem wir vorhin gesprochen haben. Ist das nicht wunderbar? So voller Ironie!« Ein leises Lachen erklang, zur Hälfte überdeckt von dem Klingeln in Faris’ Ohr.
Ihm stellten sich alle Nackenhaare auf. » Sie Schwein!«, würgte er hervor. In Gedanken war er bei der Gruppe Jugendlicher, die zusammen mit den Nonnen und dem Priester in die Bahn gestiegen waren, doch ihr Bild wurde überlagert von einem anderen, das nun vor seinem geistigen Auge auftauchte. Ein abgerissener Finger mit rot lackiertem Nagel. Mit der freien Hand fuhr Faris sich in die Haare, drückte seinen Schädel, als könne ihn das vor dem Implodieren bewahren. Dabei bemerkte er, dass er aus einer Kopfwunde blutete. Kurz starrte er auf das Blut an seinen Fingerspitzen, dann wischte er es kurzerhand an der Jeans ab. » Sie haben den Zug in die Luft gesprengt!«, stammelte er. » Warum?«
Die Frau im roten Kleid war noch immer an seiner Seite. » Sie!«, schrie sie. Sie wollte Faris’ Arm packen, aber er entwand sich ihr. Aus dem Augenwinkel nahm er zwei Männer in Anzügen wahr, die zu ihm herüberstarrten und miteinander tuschelten.
Wieder lachte der Anrufer. » Welch Ironie, Faris!«, höhnte er. » Sie verdächtigt dich, die Bombe gelegt zu haben, und weißt du auch warum? Weil du arabisch aussiehst, einzig und allein deswegen.«
Faris versuchte, die Frau abzuschütteln, indem er ein Stück weiterging. Ein Mann lag dort lang ausgestreckt. Ein junges Mädchen kniete neben ihm, presste seine Hände auf das blutige Etwas, in das sich seine Bauchdecke verwandelt hatte. » Papa!«, schluchzte es ein ums andere Mal. Faris wies auf die beiden. » Helfen Sie ihnen!«, befahl er der Frau im roten Kleid. » Rufen Sie einen Krankenwagen.«
Das wirkte. Die Frau ließ von ihm ab.
Faris drehte ihr und dem Mann mit seiner Tochter den Rücken zu. » Warum haben Sie den Zug gesprengt?«, schrie er in das Mobiltelefon. Das Blut aus seiner Kopfwunde rann ihm über die Augenbraue, und er wischte es mit dem Handrücken fort.
Die beiden Anzugträger tuschelten noch immer miteinander.
» Sie glauben, dir deine Weltsicht am Gesicht ablesen zu können«, kicherte der Anrufer. Dann schwieg er einen Augenblick und meinte schließlich: » Erinnerst du dich an das Video, das ich dir geschickt habe?«
» Die Kreuzigung.« Faris holte tief Luft. Jetzt endlich würde er vielleicht erfahren, was das alles sollte. » Natürlich! Warum?«
» Irgendwo dort draußen, Faris, in deinem schönen Berlin, hängt ein Mann an einem Kreuz. Deine Aufgabe ist es, ihn zu finden. Solange sein Herz schlägt, ist alles gut. Wenn es aber aufhört, bevor du ihn gefunden hast, dann… Nun, wie sagt der Bibelspruch: Da erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren. Ich denke, du verstehst, was ich meine.« Er machte eine kleine Pause.
Verwirrt versuchte Faris zu begreifen. » Aber sein Herz kann jeden Moment aufhören zu schlagen«, flüsterte er mit einem Anflug von Grauen in der Stimme.
Doch der Unbekannte widersprach. » Das wird es nicht tun, und weißt du auch, warum ich so sicher bin?«
Faris schüttelte den Kopf. Die Muskeln in seinem Hals fühlten sich an wie aus Draht. » Nein.«
» Weil Gott auf meiner Seite ist, Faris. Als ich den Mann ans Kreuz schlug, habe ich mich in seine Hand begeben. Weißt du, was ein Gottesurteil ist?«
Faris nickte.
» Man lässt Gott entscheiden«, erklärte ihm der Anrufer trotzdem. » Wenn er der Meinung ist, dass meine Sache gerecht ist– und davon bin ich fest überzeugt–, wird er dafür sorgen, dass der Gekreuzigte die nächsten vierzig Stunden überlebt. Vierzig Stunden ab jetzt, Faris, hast du das verstanden?«
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