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40 Stunden

40 Stunden

Titel: 40 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Zeit.« Sie zog die Hand wieder zurück, und Faris verspürte ein völlig irrationales Bedauern dabei.
    Er dachte an Werner Ellwanger. Irgendwo dort draußen hing er an einem Kreuz. Der Kerl, der ihn drangenagelt hatte, hatte Paul auf dem Gewissen. Und er, Faris, stand hier herum und suhlte sich in Selbstmitleid! Er ekelte sich vor sich selbst.
    Er wollte die Arme von dem Geländer nehmen, wollte sich aufrichten, weitermachen. Nichts davon ging. Er fühlte sich, als stecke er in einem Anzug aus Blei, der ih n vollständig einschloss. Sogar das Atmen fiel ihm schwer.
    Ira griff nun nach seinem Ellenbogen. » Kommen Sie«, sagte sie. » Wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen, fahre ich Sie nach Hause.«
    Kaum dass Faris in Iras Kleinwagen saß, klingelte sein neues Handy. Froh darüber, dass es wenigstens für den ersten Teil der Fahrt kein peinliches Schweigen geben würde, ging er ran.
    Es war sein Vater. » Geht es dir gut, Junge?«, war das Erste, was er fragte.
    » Ja, Abu«, antwortete Faris. Obwohl er mit vier Jahren nach Deutschland gekommen war und sie beide fließend Deutsch sprachen, hatte er es sich niemals abgewöhnt, seinen Vater mit dem arabischen Wort für Papa anzusprechen. » Hat Samir euch aus Berlin rausgeschafft?«
    » Mich und Umi und alle deine Geschwister und sogar die Neffen und Nichten«, antwortete sein Vater. » Wir sind…«
    » Stop!«, unterbrach Faris ihn eilig. » Sag es mir nicht. Ich bin nicht sicher, ob mein Telefon abgehört wird.«
    Das ließ seinen Vater für eine Weile verstummen. » Deine Mutter war nicht besonders begeistert darüber, dass du als Einziger nicht mitgekommen bist«, grummelte er schließlich. Etwas ganz anderes klang in seinen Worten mit.
    Du bist schuld an allem. Wenn du nicht Polizist geworden wärest …
    Zu seiner Erleichterung verzichtete sein Vater heute auf diesen Vorwurf.
    Faris fuhr sich durch die Haare. Er spürte, dass Ira ihn beobachtete.
    » Ich muss jetzt Schluss machen, Abu, es ist sehr spät«, sagte er.
    » Natürlich. Pass auf dich auf. Ich bete dafür, dass Allah es auch tut!«
    Die unerwartete Freundlichkeit und die Sorge, die aus den Worten seines Vaters klangen, fügten den Schuldgefühlen, die Faris ohnehin schon empfand, weitere hinzu. » Ich danke dir, Abu. Grüß Umi und Anisah von mir.«
    » Das mache ich, Junge. As-salamu alaikum .«
    Die gut gemeinte Floskel fühlte sich an wie ein Hieb. Faris musste die Zähne zusammenbeißen und tief Luft holen, bevor er sie erwidern konnte. » Wa-alaikumu s-sal ā m, Abu.«
    » Herr Iskander?« Iras Stimme.
    Er reagierte nicht darauf.
    » Faris?«, fragte sie. Erst da bemerkte er, dass sie inzwischen angekommen waren. Er konnte sich nicht an den Rest der Fahrt erinnern.
    Er zwang sich, Ira zuzunicken.
    » Alles in Ordnung?« Sie war ein bisschen blass.
    » Geht schon.« Er klang schwach. Atemlos.
    Und so fühlte er sich auch.
    » Eine japanische Buchhandlung.« Interessiert betrachtete Ira das Schaufenster des Ladens, der unten in Faris’ Haus residierte. Obwohl es inzwischen nach Mitternacht war, hatte der Buchhändler noch Licht an.
    Mitternacht! In nicht mal vierundzwanzig Stunden würde im Olympiastadion die Bombe hochgehen. Faris erstarrte kurz bei diesem Gedanken, doch dann bemerkte er, dass er nichts dabei empfinden konnte.
    Es war ihm schlichtweg egal.
    Er schloss die Haustür auf und sah Ira fragend an.
    Sie wand sich sichtbar. » Haben Sie jemanden, der kommen kann?«, fragte sie. » Ihre Familie oder so?«
    Laura!, schoss es ihm durch den Sinn.
    Langsam schüttelte er den Kopf. Er dachte an Anisah, seine große Schwester. Sie war die Einzige, die er im Moment vielleicht ertragen hätte, aber etwas hielt ihn davon ab, sie zu erwähnen. Sie und der ganze Rest seiner Familie hatten Berlin inzwischen weit hinter sich gelassen. Drückende Endzeitstimmung hüllte ihn ein wie ein Tuch.
    Ira zögerte. » Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob es klug ist, Sie allein zu lassen.«
    Das war er auch nicht. Die Vorstellung, seine Wohnungstür hinter sich zu schließen und die auf ihn einstürzenden Wände zu spüren, erschien ihm so unerträglich, dass er Ira wortlos die Haustür aufstieß. Im Vorbeigehen blickte sie ihm in die Augen.
    Er wich ihr aus.
    » Sind christliche Seelsorger immer so bemüht um Menschen, die sie gar nicht kennen?«, fragte er, nachdem sie seine Wohnung betreten hatten und er seine Lederjacke aufhängte.
    Ihr Blick blieb an der dunkelroten Brandnarbe hängen, die unten aus

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