40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
niedergelassen und bitte nun um eine milde Gabe. Die original indische Klangschale füllt sich klimpernd, allerdings trotz meines ausgemergelten Äußeren nur sehr langsam. Ich sitze etwas abseits, damit mir möglichst kein Bekannter oder gar Kollege über den Weg läuft. Mein Standort hat den Nachteil, dass mir nur die Leute Geld geben, die wirklich etwas Gutes tun wollen, und nicht diejenigen, die andere mit ihrer Gabe beeindrucken möchten. Denn hier hinten sieht man mich fast nicht. Es gibt aber auch Passanten, denen es peinlich zu sein scheint, zu spenden.
Betteln ist eine hochinteressante neue Perspektive. Ich bin tatsächlich am Boden, »mache Platte« und schaue zu den anderen auf. Man begibt sich in die Haltung des Nehmenden und hat somit keinen Raum zu geben.
Die meisten Passanten gucken absichtlich weg, wollen weder angebettelt noch mit Elend konfrontiert werden.
Wenn ich Leute beobachte und mir ausmale, dass sie alle unglücklich und gehetzt aussehen, sind sie das auch. Wenn ich mir aber vorstelle, dass es in unserer Gesellschaft viele zufriedene, glückliche Menschen gibt, dann stimmt das ebenfalls. Wir sehen die Welt, wie wir sie sehen wollen. Jeder hat die Wahl: Entweder ich finde die Welt zum Kotzen oder ich bin davon überzeugt, dass wir im Paradies wohnen. Oder – in Kiel. Das liegt irgendwo dazwischen.
Alte Frauen geben, sonst kaum jemand. Es regnet leicht, und ich sehe zu meiner großen Verwunderung einen Punker mit Regenschirm. Das darf es nicht geben. So wie es keine schwarze Milch, dreibeinigen Menschen oder schwangeren Männer geben kann. Die Welt hat sich verändert …
Scheiße!! Scheiße. Scheiße. Ein Kollege kommt auf mich zu. Mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Timm?« Ich glaube, im Boden zu versinken, und stammle etwas von einem soziologischen Test, habe das Gefühl, dass selbst mein Filzbart rot wird. »Ist alles okay mit dir? Du siehst so anders aus.« – »Ist der Bart.« Der Kollege, einer der hellsten Köpfe unseres Hauses, ahnt, dass da was im Busch ist. Er besitzt aber auch den Anstand, sich schnell und höflich zu verabschieden und mich in der Gosse zurückzulassen. Ich schnappe mir meine Klangschale, verschwinde um die Ecke, reiße mir den Bart vom Kinn und schäme mich.
Ich bin nicht besser als ein Günter Wallraff. Sie erinnern sich? Er ist seinerzeit als Schwarzer verkleidet in sächsische Fußballstadien gegangen, um Rassismus zu beweisen. Ich tauche ja auch nicht auf den Meeresboden, um zu beweisen, dass man da unten nicht atmen kann.
Um ein bisschen zu Kräften zu kommen, den Sinnen mal wieder etwas zu bieten und meine Laune zu bessern, habe ich mir von meinen erbettelten Kröten Molke gekauft. Fastenpapst Dr. Otto Buchinger schreibt, das würde gerade beim Langzeitfasten sehr guttun und außerdem »köstlich schmecken«.
Dann setze ich mich auf einen Mauervorsprung in der Fußgängerzone und öffne ganz langsam den Plastikbecher mit Molke. Es riecht – nach was eigentlich? Vergammeltem Joghurt? Wenn man 22 Tage nichts gegessen hat, miesen Tee geschlürft und alle Säfte dieser Welt satthat, versteht man, wie sehr ich mich auf die Molke gefreut hatte. Und dann das. Molke schmeckt beschissen! Schrecklich! Ekelhaft!
Ich schleppe mich zu Gabi. Fühle mich gerädert. Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. So sollte ich mich eigentlich nicht bei ihr blicken lassen. Aber sie erträgt mich. Meine Rettung ist ein Tässchen Gemüsebrühe, das sie mir schnell kocht. Mit Fettaugen! Natürlich habe ich gleich ein schlechtes Gewissen. Aber köstlich schmeckt das!
An Einschlafen vor ein Uhr ist wie immer nicht zu denken. Auch nicht bei Gabi. Also liege ich still da und lasse mir diesen seltsamen Tag noch einmal durch den Kopf gehen. Die Bettelei hat mir noch einmal verdeutlicht, auf welch hohem Niveau die sogenannte Upper Class in Deutschland (ich gehöre wohl auch dazu) lebt: Unser Lebensstandard umfasst mehrere Urlaubsreisen pro Jahr, zwei Autos pro Familie, mindestens 100 Quadratmeter Wohnraum, das tägliche Wegwerfen von Lebensmitteln, Internet überall rund um die Uhr, ein Konto oder eine Familie, die wir ständig anzapfen könnten, Energie im Überfluss und das Grundrecht auf gesundheitliche Versorgung. Wehe, einer von uns kommt da noch mal auf die Idee zu jammern.
Dreiundzwanzigster Tag, 23. September
Fasten ist ein Ausdruck des Grams angesichts von Unheil und Gefahr oder der Zerknirschung über vergangene Sünden, die Gottes Missfallen erregt haben.
P.
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