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40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte

Titel: 40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timm Kruse
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nicht.
    Vom Verstand her weiß ich natürlich, dass Goethe in seinen Schriften weiterlebt. Und dass auch ich einmal sterben werde. Deshalb sucht mein Ego Trost in fernen Religionen. Weise Männer behaupten, ich wäre nicht mein Körper. Diese Idee ist so tröstlich: Ich bin am Leben, ich bin Leben. Und Leben ist immer. Ich bin Sein. Und Sein ist überall. Der nächste Schritt wäre: Ich bin Gott. Manchmal meine ich einen Hauch dieser Göttlichkeit zu spüren. Aber diese Göttlichkeit bin nicht ich. Die ist höchstens in mir. In allem.
    Nicht sterben zu wollen ist purer Egoismus. Ohne den Tod würde die Erde aus allen Nähten platzen. Nur weil die Generationen vor uns abgetreten sind, ist Raum für uns.
    Hunde, wollt ihr ewig leben? Nee, es ist gut, irgendwann zu gehen.

Zwanzigster Tag, 20. September
Das Fasten ist die Speise der Seele. Wie die körperliche Speise stärkt, so macht das Fasten die Seele kräftiger und verschafft ihr beweglichere Flügel, hebt sie empor und lässt sie über himmlische Dinge nachdenken.
JOHANNES CHRYSOSTOMUS, Patriarch von Konstantinopel
    Zwanzigster Tag, 20. September
    83,0 KILOGRAMM
    Die Hälfte! Das Glas ist weder halb voll noch halb leer. Die Flüssigkeitsmenge des Glases beträgt 50 Prozent. Ich bin weiterhin stocknüchtern. Als hätte mein Körper keine Kraft mehr für Emotionen, wandle ich vollkommen unberührt von allem durch die Welt. Ich denke weniger über himmlische Dinge nach als vielmehr über ganz Handfestes, »Irdisches«, über Tatsachen, nicht mehr und nicht weniger.
    Gabi hat die Nase voll. »Du ziehst mich runter. Immer diese düstere, gebremste Stimmung«, klagt sie. »Ich hab mich in den witzigen, sprühenden Timm verliebt, und jetzt bist du zu einem Grufti mutiert. Du reagierst ja nicht mal mehr, wenn ich dich anspreche.« Gabi ist ganz verzweifelt und weint. Sie hat Angst, dass ich so bleibe wie jetzt – und Erleuchtungsexperimente zu meinem Lebensinhalt mache.
    Ich verstehe sie. Trotzdem muss ich sagen: Ich bin immer noch ich. Viel näher an meinem Kern als vor dem Fasten. Meine Außenorientierung ist nur geschrumpft. Ich versuche, kaum noch in Kontakt mit anderen zu treten, will nicht mehr gefallen, indem ich meine Lebensfreude versprühe und besonders gewitzt rüberkomme. Ich bin einfach nur noch.
    Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt, bin nicht mehr der, der ich vorher war, und nicht mehr da, wo ich vorher war. Etwas hat sich verschoben, verrückt. Gabi: »Friedlich und harmonisch wirkst du nicht gerade. Ein Anselm Grün, zum Beispiel, der strahlt. Aus seinem Kern kommt Liebe. Du wirkst abgewandt, in deinen Kern zurückgezogen und abgeschottet.«
    Was uns eindeutig fehlt, sind die gemeinsamen Mahlzeiten. Gemeinsames Kochen ist fast wie Sex. Und Essen ist vor allem eine soziale Angelegenheit. Wer nicht isst, ist ausgeschlossen. Wer fastet, wird automatisch zum Außenseiter. Wer keinen Sex hat, meist auch. Der Schriftsteller Frédéric Beigbeder teilt die Menschen in zwei Kategorien: die, die Sex haben, und die, die keinen haben. Ich mache das Gleiche: die, die essen, und die, die nicht essen.
    Wenn ein ganzes Volk gleichzeitig fasten würde, wie sähe dann der soziale Umgang seiner Bürger aus? Würde man sich dann auf ein gemeinsames Teetrinken treffen? Es würde ein kollektives Fasten-Ego entstehen, und alle würden nasenrümpfend auf die essenden Nachbarländer schauen. »Die Franzosen essen heute bestimmt wieder Froschschenkel, die Polen hauen sich einen fettigen Krauttopf rein, die Engländer stopfen sich heute alle mit Fish ’n’ Chips voll. Aber am schlimmsten sind die Italiener: Die essen schon wieder Pizza oder Pasta und trinken trockenen Weißwein. Wie widerlich.«
    Pizza – wie lange ist das her?
    Wenn nicht gerade Knoblauchpizzen, Currywürste oder Backstuben meinen Geruchssinn foltern oder meine Gedanken sich in Richtung Italien verlaufen, verspüre ich keinen Hunger. Noch nicht einmal Lust auf Essen. Meist habe ich eher das Gefühl, ich würde nie wieder essen. Ich habe auch seit fast einer Woche kaum noch abgenommen. Steige ich jetzt um auf Lichtnahrung? Dafür müsste ich »nur« sieben Tage auf Flüssigkeit verzichten, und schon wäre der Körper so weit. Aber sieben Tage nicht zu trinken kommt mir absolut unmöglich vor.
    Ich trinke durch die Nase Brotsuppe, die mir dann wieder aus dem Mund herausläuft. Wache bibbernd auf und habe mein Kopfkissen vollgesabbert. Immerhin funktioniert der Speichelfluss auch nach zwanzig Tagen

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