41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
zurück klettern. Manchmal, wenn er nachts nicht schlafen konnte, wanderte er barfuß im Park umher, legte sich ins feuchte Gras und beobachtete die strahlenden Lichter am Himmel. Einmal war er dabei so tief eingeschlafen, dass ihn am Morgen der Gärtner wecken musste. Dieser hatte seinen erdverkrusteten Zeigefinger verschwörerisch auf die Lippen gelegt, ihn zu seinem Fenster begleitet und ihn über das Sims in sein Zimmer gehoben. Seitdem steckte ihm Luc regelmäßig jeden Dienstag eine kunstvolle Zeichnung, die er in seiner Maltherapie liebevoll anfertigte, in seine Gartenstiefel, die vor der Werkzeughütte standen.
Auch heute wollte er um jeden Preis wissen, was im Garten vor sich ging und was Hendrik mit Marcel zu besprechen hatte.
Er kletterte aus dem Fenster und robbte auf dem Bauch zu einem dichten Fliederstrauch, unter dem er sich atemlos zusammenkrümmte. Was er zu hören bekam, machte ihm furchtbare Angst. Marcel wollte Dinge über Louise wissen. Immer wieder fragte er nach Louise. Marcel war einer von den Bösen, das sah Luc sofort. Die eigenartigen Blicke, die er ihm beim Essen zugeworfen hatte, waren finster und unfreundlich gewesen. Und nun hatte er es auf Louise abgesehen.
Als die beiden Männer aufstanden, beeilte sich Luc, schnell wieder in sein Zimmer zu kommen. Er merkte nicht, dass seine Kleidung von der Gartenerde beschmutzt war und sich in seinen Haaren vereinzelt Blätter verfangen hatten. Der Fernseher lief noch, Luc setzte sich wieder auf die Kissen am Boden, schnappte sich die Pralinenschachtel und starrte mit leerem Blick auf die flimmernden Bilder. Was wollte Marcel von Louise? Was wollte er mit ihr machen? Warum war er deswegen bei Hendrik?
Am Bildschirm klimperte Daisy Duck mit ihren aufgebogenen Wimpern und wackelte verführerisch mit ihrem Entenhinterteil. Donald Duck drehte seine Matrosenmütze schüchtern zwischen den Fingern und blickte verlegen zu Boden. Luc durchfuhr ein jäher Blitz, der schmerzhaft hinter seinen Augen brannte.
Marcel war gekommen, um Luc zu vertreiben. Er wollte Hendrik überreden, dass er Luc nicht mehr zu Louise schickte. Er hatte von Louises Zeit gesprochen und dass alle Spuren zu ihr führten. Luc wusste nicht, was Spuren waren, aber es musste bedeuten, dass Marcel selbst zu ihr wollte. Luc kannte nur einen Antrieb, warum ein Mann zu Louise wollte: Es waren ihre weichen Bälle.
Das durfte nicht sein, auf keinen Fall! Es waren seine flauschigen Bälle, es war sein wohliger Duft, es war sein zärtliches Gefühl, es war seine einzigartige Louise!
Ihm und nur ihm gehörte Louise! Er musste Marcel zuvorkommen.
Morgen war sein großer Tag, er war bereit.
Louise
Louise hatte mit ihren Klagelauten aufgehört und saß nun, den Rücken erschöpft an die Wand gelehnt, den Kopf verzweifelt in die Hände vergraben, am blank polierten Dielenboden ihres Flurs. Sie rang keuchend nach Atem und es dauerte geraume Zeit, bis sie ihre Fassung wieder einigermaßen gefunden hatte. So kurz vor dem Ziel die Nerven zu verlieren, wäre die reinste Katastrophe. Sie versicherte sich selbst, dass sie nicht an einem völligen Zusammenbruch litt, sondern vielmehr die Anspannung der letzten Tage ein Ventil gesucht hatte und für diese Entgleisung verantwortlich war.
„Aufstehen! Nicht am Boden liegen bleiben!“, ermahnte sie sich selbst und richtete sich mühsam aus ihrer gekrümmten Haltung auf. Sie zitterte ein wenig und trotz der sommerlichen Temperaturen war ihr kalt. Im Badezimmer spritzte sie sich Wasser ins Gesicht und befahl ihrem Spiegelbild eindringlich, Sentimentalitäten und Wehmut erst auf St. Martin ihren freien Lauf zu lassen. Dort hätte sie genügend Zeit für Stimmungsschwankungen.
Um diesen Entschluss zu bekräftigen und in die Tat umzusetzen, kehrte sie in den Flur zurück, griff zum Telefon und wählte die Nummer des vielgerühmten Pflegeheimes, in dem sie seit Jahren für Luc ein Zimmer reservieren hatte lassen. Sie verlangte, den Heimleiter persönlich zu sprechen und informierte diesen mit angemessen bedrücktem Vibrato in der Stimme über das plötzliche Ableben ihres Pfleglings. Der Heimleiter bekundete sein außerordentliches Beileid zu ihrem untröstlichen Verlust und Louise dachte, dass sein Bedauern bestimmt ehrlich gemeint war, verlor er doch mit ihr eine wohlgesinnte Förderin seiner Institution. Sie fühlte sich nach dem kurzen Telefongespräch keineswegs erleichtert.
Ihr war klar, dass ihr der schwerste Schritt morgen noch bevorstand, doch
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