41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
fieberhaft. Er hatte recht. Wenn es eine Möglichkeit gab, Louise zu entlasten, musste sie ihr unbedingt helfen. Wenn sie jedoch damit die Lage noch verschlimmerte? Sie wusste doch nicht, wann die Männer verschwunden waren! Doch gleichgültig, wie die Sache ausging, er würde auf jeden Fall in offizieller Mission mit allen nötigen Papieren in der Hand, die ihm Zugriff auf das gesamte Datensystem erlaubten, wieder kommen. Sie zog sich nur unnötigen Ärger zu, wenn sie sich jetzt stur stellte. Sie hatte keine große Wahl.
Ohne Marcel auch nur eine Sekunde lang anzusehen, wandte sie sich ihrem Computer zu.
Er sprang auf.
„Einen Moment bitte, Madame, ich möchte nur sicher gehen, dass alles seine Richtigkeit hat!“, rief er und stellte sich hinter sie, um die Vorgänge auf dem Bildschirm zu beobachten. Alette zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Sie loggte sich ein, tippte Louises Namen in ein Suchfeld und bestimmte als genauen Zeitrahmen das letzte Jahr. In Sekundenschnelle ermittelte der Computer, dass Louise innerhalb des letzten Jahres vier Mal nach Frankfurt geflogen war und von dort nach zwei Wochen wieder zurück nach Paris. Alle Flüge hatte sie bei immer demselben Reisebüro in Paris gekauft.
„Würden Sie mir bitte einen Ausdruck davon machen?“, bat Marcel. Alette schüttelte den Kopf.
„Nein, das würde ich ohne richterliche Verfügung lieber nicht. Unsere Büros und Computer werden alle strengstens überprüft, alle Vorgänge regelmäßig gespeichert und protokolliert. Aber Sie könnten die Daten schnell abschreiben.“
Marcel nickte zustimmend, er war beruhigt. Alette war von seinem Besuch überrascht worden und hatte keine Gelegenheit gehabt, an Louises Flügen zu manipulieren, davon hatte er sich eben selbst überzeugen können.
Sie reichte ihm wortlos einen Stift und ein Blatt Papier.
Als er fertig war, streckte er ihr zur Verabschiedung seine Hand entgegen, dankte ihr und fühlte sich beinahe verwegen, als er wie nebenbei anfügte:
„Ich hätte Sie am Sonntagabend gerne besucht, habe Sie aber leider nicht angetroffen.“
Alette entzog ihm ihre Hand und ihre Stimme klirrte, als sie ihn zurecht wies:
„Ich hätte Sie auch nicht empfangen, Marcel. Sie gehören nicht zum engeren Kreis meiner persönlichen Freunde. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“
Er war entlassen.
Marcel ärgerte sich während der ganzen Fahrt zurück bis zum Präsidium über seinen peinlichen Ausrutscher. Wie konnte er nur Privates mit Beruflichem vermischen, und noch dazu, wo es um ein so heikles Thema wie käufliche Liebe ging?
In seinem Büro verglich er Louises Urlaubszeiten mit den Daten der verschwundenen Männer.
Sechzehn Männer waren verschwunden, während Louise in Paris weilte, zwei Männer hingegen, während sie in Frankfurt war.
Louise
Louise war weder religiös noch abergläubisch und sie hielt auch nicht viel von spirituellen Eingebungen oder seelenbeflügelten Energiefeldern. Ihr Leben hatte sie gelehrt, sich ausschließlich auf ihren gesunden Menschenverstand und sich selbst zu verlassen. Und auf Hendrik.
Allerdings gestattete sie sich eine klitzekleine Marotte.
Sie fühlte sich von der Zahl zwanzig besonders angezogen und das aus gutem Grund. Begonnen hatte alles an ihrem zwanzigsten Geburtstag, als Hendrik ihr durch seinen Chauffeur einen üppigen Strauß, gebunden aus zwanzig verschieden farbigen Blumen, in ihr damals noch tristes Zimmer in der Rue Loubert zukommen ließ. Es war das erste Mal in ihrem jungen Leben, dass ihr jemand ein solches Geschenk gemacht hatte, ohne dafür eine entsprechende Gegenleistung zu verlangen. Louise hatte jede einzelne Blüte getrocknet und in ihren dicken, historischen Liebeswälzern so lange gepresst, bis sie hauchdünn in ihrer ursprünglichen Form erstarrt waren. Das kleine Büchlein, in das sie die Blüten sorgsam geklebt hatte, besaß sie noch heute, auch wenn die Seiten vergilbt und brüchig geworden waren. Sie führte es stets in ihrer Handtasche bei sich. Es war für sie ein wertvolles Kleinod, durch das sie vor vierzig Jahren erfahren durfte, dass sie fähig war, reine Freude zu empfinden.
Von ihren ersten selbstverdienten zwanzig Francs hatte sie sich Seife, Haarnadeln und ein fragiles Fläschchen blutroten Nagellacks gekauft. Sie besaß mittlerweile zwanzig Kristallgläser aus ein- und demselben Schliff. Finger und Zehen zusammengezählt ergaben zwanzig zerbrechliche, winzige Gliedmaßen, die sie liebevoll hegte und pflegte, um ihre
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