41 - Unter heisser Sonne
Dank!“ rief der Bub. „Gleich geht es los!“
Er schlug vor Entzücken einen Purzelbaum und schoß dann zum Laden hinaus.
„Nun, was sagst du zu ihm?“ fragte Mustafa Bustani nach einer Minute des Schweigens. „Was für ein Knabe! Nicht wahr, ein Künstler?“
„Warten!“ antwortete ich. „Erst sehen! Solche Urteile wollen überlegt und wohl betrachtet sein. Ich habe um Frist gebeten. Zunächst sehen wir uns ja schon morgen wieder.“
Das gab uns Veranlassung, uns zu verabschieden. Wir gingen. Das war gegen Mittag, wo die heißeste Zeit des Tages beginnt, die man am liebsten in der Kühle des Zimmers verbringt. Als sie vorüber war, wanderten wir nach dem Ölberg, um nach Bethanien hinauf zu spazieren und dann über die Stätte Bethphage und Kafr et Tur nach der Stadt zurückzukehren. Wir nahmen den photographischen Apparat mit, ohne den meine Frau fast nie verreist. Was aber mich betrifft, so mache ich meine Touren in der Weise, daß es mir unmöglich ist, mich mit solchen Dingen zu befassen, weil sie viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen und die persönliche Selbständigkeit und Beweglichkeit in hohem Grade beeinträchtigen. Meine Frau aber liebt es, Erinnerungsbilder mit nach Hause zu bringen und sich und andere später an ihnen zu erfreuen. So machte sie auch heute in Bethanien einige Aufnahmen, welche die Eigenartigkeit der dortigen Stein- und Mauerreste zeigen. Dann stiegen wir zur vollen Höhe des Ölbergs hinauf. Da gibt es Stellen, an denen man nicht nur die ostjordanischen Berge, sondern sogar einen Teil des Toten Meeres liegen sieht. Indem wir diese reiche Fernsicht genossen, sprachen wir über unseren heutigen Besuch bei Mustafa Bustani, und ich hob hervor, daß er gegen früher leidend aussehe und schnell und mehr gealtert sei, als die Jahre eigentlich mit sich brachten. Der Tod seiner Frau hatte ihn viel, viel tiefer ergriffen, als man einem Mohammedaner sonst zuzutrauen pflegt. Und hierzu kam noch ein zweites, fast ebenso tiefes Leid und eine innere seelische Aufregung, die wir noch nicht kannten, jetzt aber kennenlernen sollten. Denn nachdem wir unsere Aufmerksamkeit bisher ausschließlich nach Osten gerichtet hatten, wendeten wir uns jetzt dem Westen zu, also der Stadt, die vor uns lag, und da gewahrten wir in abgeschiedener Gegend einen einsamen Mann, der in der Nähe eines Johannisbrotstrauches saß und, die Hände wie zum Gebet gefaltet, unbeweglich gegen Morgen starrte. Das war einige Zeit vor der Abenddämmerung. Wir mußten an ihm vorüber. Als wir näher kamen, erhob er sich. Es war Mustafa Bustani, unser Freund, von dem wir soeben erst gesprochen hatten. Wir sagten ihm das. Er aber schien über dies ganz unbeabsichtigte Zusammentreffen nicht ganz unverlegen zu sein. Es war, als ob er sich über etwas ertappt fühle, was niemand wissen solle. Seine Worte, die sich an die Begrüßung schlossen, klangen so, als ob er die Verpflichtung fühle, sich entschuldigen zu müssen.
Er teilte uns mit, daß die Stelle, an der wir uns befanden, seit einiger Zeit sein Lieblingsplatz sei, den er fast täglich aufsuche, um gegen Osten hinzuschauen. Ich mußte dabei unwillkürlich an seinen verstoßenen Bruder denken, der ja gegen Osten hin verschwunden und verschollen war. Wir setzten uns bei ihm nieder und bemerkten bald, daß er sich in einer eigenartigen Stimmung befand, deren Grundton als eine außerordentlich weiche, seelische Hilflosigkeit herauszufühlen war. Ich suchte die Ursache hierzu nicht in der uns umgebenden, szenisch ergreifenden und geschichtlich gewaltigen Örtlichkeit, denn diese war er gewohnt, sondern in ihm selbst, in seiner Psyche. Und ich hatte recht. Denn er leitete das Gespräch sehr bald auf seinen schon erwähnten Lieblingsgegenstand, nämlich auf den Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt und auf die biblische Behauptung, daß es Wunder gebe. Hierauf gestand er uns, daß ihn ein Traum herauf an diese Stelle treibe, ein Traum, der so klar, bestimmt und deutlich gewesen sei, als ob er im Wachen, nicht aber im Schlaf stattgefunden habe. Diese Deutlichkeit sei so groß und so überzeugend gewesen, daß er sich den Tag des Traumes aufgeschrieben habe, den fünfzehnten Tag des Monats Adar (März). Halb sich entschuldigend und halb fragend fügte er hinzu, daß er uns wohl nicht zumuten dürfe, uns mit seinen Träumen zu beschäftigen. Wir versicherten ihm, daß uns alles, was ihn und ganz besonders sein Seelenleben betreffe, im höchsten Grade interessiere,
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