42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
bekommen werdet Ihr sie nicht!“
„Warum?“
„Hier darf niemand eine Börse führen. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt. Geht zum Konsul!“
Es war klar, dieser Mensch machte sich über Sternau lustig. Dieser sah ein, daß es das beste sei, es zu ignorieren und sich zu fügen. Er war Gefangener, konnte es aber doch nicht ewig bleiben. Er folgte daher ohne fernere Einrede dem Schließer, welcher ihn abermals eine Treppe emporführte. Sie traten in einen düsteren Korridor, welcher die Nummer zwei über seinem Eingang führte. Rechts und links waren hier Gefängniszellen. Bei einer mit einer Vier bezeichneten Tür blieb der Schließer stehen, um aus einem großen Schlüsselbund den betreffenden Schlüssel herauszusuchen. Er öffnete zwei hintereinander befindliche Türen, welche auf beiden Seiten mit Eisen beschlagen waren.
„Vorwärts! Marsch!“
Dies schienen die einzigen Worte zu sein, welche er reden konnte. Als Sternau gehorchte und eintrat, fielen die beiden Türen hinter ihm ins Schloß. Er war gefangen.
Es war ein eigentümliches Gefühl, welches ihn überkam, ein Gefühl ganz ähnlich demjenigen, welches ein Mensch empfindet, welcher in das Wasser steigt und dabei bemerkt, daß die Flut über ihm zusammenschlägt. Er ist von Luft und Licht abgeschlossen; er ist kein Mensch mehr, kein freies, selbstbestimmendes Wesen; er hat keinen Namen mehr; er wird nach der Nummer derjenigen Zelle gerufen, in welcher er sich befindet. Er mag sterben und verderben, ohne sich wehren zu können.
Es war außerordentlich düster in der kleinen Zelle, denn sie erhielt ihr Licht durch eine winzig kleine Öffnung, die man mit der Hand kaum erlangen konnte und welche zunächst mit einem engen Eisengitter und dann auch mit einem starken Drahtseil verschlossen war. Sie war sechs Schritte lang und vier Schritte breit. Zwei kleine Matratzen lagen auf dem Boden, die einen ungewöhnlichen Duft ausströmten. Die eine derselben war leer; auf der anderen aber lag eine menschliche Gestalt, welche sich bei dem Eintritt des Doktors erhob.
„Ah, neuer Zuwachs!“ hörte er eine schwache Stimme. „Guten Abend!“
„Guten Abend!“ dankte er.
„Bist du neu?“ fragte der bisherige Besitzer der Zelle.
Sternau hatte einmal gehört, daß Gefangene sich stets mit du anreden. Er beschloß, seinen Kameraden nicht zu erzürnen, und antwortete:
„Ja.“
„Weshalb bist du da?“
„Ich weiß es nicht.“
„Ach, mach mir nichts vor!“
„Es ist so!“
„Na ja. So sagt ein jeder. Setze dich!“
„Wohin?“
„Auf die Matratze.“
„Ist sie rein?“
„Hm!“
Diese Antwort sagte ihm alles; aber er sah ein, daß er mit Zurückhaltung hier nicht weit kommen werde, und setzte sich daher nieder.
„Was bist du?“ fragte der andere.
„Ein Arzt.“
„Ein Arzt? Ist das wahr?“ klang die freudige Frage.
„Ja.“
„Oh, da bitte ich um Verzeihung, Señor, daß ich du gesagt habe. Nun glaube ich auch, daß Sie nicht wissen, weshalb Sie hier sind. Wer verhörte Sie? Der Corregidor?“
„Ja.“
„Ein verdammter Kerl! Wissen Sie, wann Sie das Verhör haben werden?“
„Nun?“
„In zwei oder drei Monaten.“
„Das wäre ja fürchterlich!“
„Er tut es nicht anders. Haben Sie Hunger?“
„Nein.“
„Durst?“
„Nein.“
„Der Schließer brachte vorhin doppeltes Abendbrot, und daraus ersah ich, daß ich einen Kameraden bekommen würde.“
„Woraus besteht das Abendbrot?“
„Aus trockenem Brot und fauligem Wasser.“
„Das Morgenbrot?“
„Aus nichts.“
„Das Mittagessen?“
„Aus einer Schale heißen Wassers mit zwölf Erbsen oder Graupen oder Linsen darinnen.“
„Was bekommt man sonst?“
„Was noch? Nichts, gar nichts.“
„Wie lange sind Sie bereits hier?“
„Drei Jahre.“
„Alle Teufel! Bei dieser Kost?“
„Ja. Diese Kost wird mich auch das Leben kosten. Ich bin krank, todkrank, und darum freue ich mich herzlich, daß Sie ein Arzt sind. Zwar helfen können Sie mir nicht, aber sagen können Sie mir doch wohl, wie lange ich noch leben werde. Gott gebe, daß es bald alle sein möge!“
Sternau war überzeugt, keinen bösen Menschen vor sich zu haben, obgleich er ihn der Dunkelheit wegen nicht zu sehen vermochte. Er fühlte Mitleid mit dem Mann und fragte:
„Wie lange ist Ihre Strafzeit?“
„Acht Jahre.“
„Oh! Ist dies denn auszuhalten! Darf ich fragen, weshalb Sie diese Strafe empfingen?“
„Warum nicht! Ich habe drei volle Jahre hier allein vertrauert; ich bin
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