42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
nicht zu beenden.
„So wird es Ihnen täglich gehen, Señor“, sagte der Kamerad, „bis Sie keinen Versuch mehr machen und das werden, was ich geworden bin.“
Am Abend erhielten die beiden wieder Wasser und trockenes Brot. So verging eine ganze Woche und dann auch die zweite, ohne daß die geringste Änderung eingetreten wäre. Sternau hatte seine Ruhe verloren. Wie stand es auf Rodriganda; wie ging es Rosa? Diese Fragen nagten an ihm. Er konnte weder essen und trinken noch schlafen. Der Schließer hörte auf keine Frage. An Flucht war nicht zu denken; die Mauern waren zu dick und das Fenster zu hoch und zu klein.
Und abermals verging eine Woche und wieder eine. Ein Monat war vergangen, und der Christmonat brach an. Da lagen die beiden Leidensgefährten auf ihren Matratzen und sprachen vom schönen Christfest. Sie kamen von diesem Thema auf ihre gegenwärtige Lage und auf die Ursache zu derselben.
„Herr“, sagte der andere, „ich bin ein strammer, zuweilen auch wilder Kerl gewesen; ich möchte diesen Cortejo einmal zwischen den Fäusten wissen, die ich früher hatte. Er wäre verloren!“
„Vielleicht kommt er zwischen die meinigen.“
„Ich will es ihm gönnen, denn Sie sind ein wahrer Goliath! Ihr seid eigentlich zu einem Seemann gewachsen. Ihr mit einer tüchtigen Handspeiche in der Hand würdet es mit zwanzig Nigger oder zehn Englishmen aufnehmen.“
„Wie kommen Sie auf die Nigger und Engländer?“
„Hm, wollen Sie es wissen, Señor?“
„Ja.“
„Sie werden dann schlecht von mir denken, aber meinetwegen, ich habe es verdient. Es hat mir längst auf dem Herzen gelegen, und ich wollte es Ihnen erzählen. So mag es denn laufen!“
„Erzählen Sie mir getrost. Es hat ein jeder Mensch seine Fehler.“
„Aber solche nicht. Wißt Ihr, was ich gewesen bin?“
„Nun?“
„Zuerst ein braver Seemann, dann aber ein Niggerhändler und endlich gar ein – Seeräuber.“
„Unmöglich!“
„Ja, nicht wahr, Sie glauben nicht, daß der Schwächling, welcher hier liegt, solch ein Bursch gewesen sein kann? Mein Name ist Jaques Garbilot, und ich war guter Leute Kind. Ich wurde ein wackerer Seemann und blieb es auch, bis ich in schlechte Hände kam. Das war auf dem ‚Lion‘, Kapitän Grandeprise. Ich hatte keine Ahnung davon, daß letzterer ein Pirat und Sklavenhändler sei; aber bereits am zweiten Tag bemerkte ich es, doch es war zu spät, denn wir befanden uns bereits auf hoher See. Kapitän Grandeprise war ein Amerikaner und ein Teufel, und er verstand es, aus mir auch ein Teufelchen zu machen. Ich habe manchen Nigger vor Verzweiflung und Heimweh über Bord springen sehen; ich habe den Englishmen, die uns immer aufpaßten, manch Gefecht geliefert; ich habe manchem armen Teufel einen schlimmen Hieb geben müssen; aber die Strafe ist gekommen; Sie sehen sie hier liegen.“
Er schwieg eine Weile, um auszuruhen, und fuhr dann weiter fort:
„Der Kapitän machte Geschäfte mit dem Notar – – –“
„Mit Cortejo?“
„Ja. Welcher Art diese Geschäfte waren, das wußte ich nicht; aber wenn wir in Barcelona einliefen, so kam der Notar stets an Bord, und dann saßen sie stundenlang über den Büchern.“
„Sonderbar!“ sagte Sternau nachdenklich. „Kennen Sie vielleicht einen Kapitän namens Henrico Landola?“
„Nein.“
„Oder ein Schiff namens ‚La Péndola‘?“
„Auch nicht. Was ist mit ihnen?“
„Mit diesem Landola treibt der Advokat auch Geschäfte.“
Sternau hatte keine Ahnung davon, daß Grandeprise und Landola ein und derselbe Kapitän und der ‚Lion‘ und die ‚Péndola‘ ein und dasselbe Schiff sei. Diese Art von Seeleuten versteckt sich und ihre Fahrzeuge hinter einer ganzen Reihe verschiedener Namen.
„Das kann sein“, sagte der Gefangene. „Er scheint viel Geld zu haben. Eines Tages hatten wir in Mexiko für ihn ein Geschäft zu machen, und –“
„In Mexiko?“ unterbrach ihn Sternau.
„Ja.“
„Wo da?“
„In Vera Cruz. Warum?“
„Weil ich mich für Mexiko interessiere.“
„So! Es galt da nämlich, einen Gefangenen aufzunehmen.“
„Zur Flucht zu verhelfen?“
„Nein. Wir mußten einen Mann zum Gefangenen machen.“
„Warum?“
„Weiß es nicht; das war des Kapitäns Sache. Er wurde an Bord gebracht und hinter die Kapitänskajüte eingespunden, so daß ihn keiner zu sehen bekam.“
„Auch Sie nicht?“
„O doch. Ich fing ihn ja mit. Er war ein schöner, starker Mann mit einer Lanzennarbe in der rechten Wange. Ich
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