42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
sich tief über ihn niederbog. Dabei brachte er seine der Tür entgegengesetzte Hand in die Nähe von Sternaus Hand und schob ihm etwas zu. Es war eine gefüllte Brieftasche. Sternau steckte sie langsam zu sich, aber so, daß es von der Tür aus nicht bemerkt werden konnte. Er glaubte zu sehen, daß der Schieber um eine Haaresbreite geöffnet worden sei. Jedenfalls stand der Schließer dort und lauschte.
Nach einer kurzen Weile begannen die Züge des Sterbenden sich zu verändern, und der Priester griff zum Öl, um ihm die Letzte Ölung zu geben. Als diese vollbracht war, streckte Garbilot Sternau die Hand entgegen und sagte:
„Leben Sie wohl! Ich danke Ihnen! Werden Sie – frei – und glücklich!“
Es waren seine letzten Worte. Ein konvulsivisches Zittern überflog seinen Körper; ein leiser, leiser Seufzer erklang durch den Raum; dann war es vorüber.
Der Mönch betete ein Weilchen bei der Leiche, dann erhob er sich und sprach laut:
„Ja, es galt auch ihm die Freude.
Die uns widerfahren ist.
Denn geboren wurde heute
Auch sein Heiland, Jesu Christ!“
Er sprach noch den Segen über den Verstorbenen, dann trat er an die Tür und klopfte laut. Der Schließer öffnete ihm, und beide entfernten sich. Bald aber erklang der Schlüssel wieder im Schloß, und der schweigsame Wächter trat abermals herein. Er sah die Leiche an und sagte dann:
„Tot?“
„Ja“, antwortete Sternau.
„Nicht liegen bleiben! Fortschaffen!“
Hierauf betrachtete er sich die Riesengestalt Sternaus mit Aufmerksamkeit und fuhr fort:
„Ihn tragen?“
„Meinetwegen“, antwortete der Gefragte so gleichgültig wie möglich, obgleich ihm vor Aufregung alle Pulse hämmerten.
„Aufsacken. Kommen!“
Sternau nahm die Leiche auf die Arme und schritt dem Schließer nach, welcher langsam voranschritt. Ihre Schritte hallten laut in dem großen, öden Gebäude wider. Die Beamten, welche am Tag hier arbeiteten, waren jetzt daheim bei den Ihrigen, um Weihnacht zu feiern. Der Weg führte über mehrere Treppen nach einem kleinen Hof. Dieser mündete in den finsteren Flur, durch den Sternau vor zwei Monaten in das Gefängnis gekommen war. Der Schließer nahm seinen Schlüsselbund zur Hand und schloß ein schmales, tiefes Steingewölbe auf, in welchem neben einem langen Tisch zwei Bahren standen.
„Leichengewölbe“, sagte er. „Tisch legen!“
Es war ein düsterer Anblick, der sich hier den Augen Sternaus bot.
Als Arzt hatte er oft dem Tod das Leben abgerungen, aber auch gesehen, wie dieser Sieger geblieben, wie der Kranke eine Beute desselben geworden war.
Hier aber, im Kerker, im fremden Land, in der Gewalt der Intrige, gegen die die Kraft des Mannes oft nur schwer anzustreben vermag, konnte Sternau sich eines leisen Schauers nicht erwehren.
Bald aber hatte er die Gefühle des Grauens niedergedrückt und die Oberhand über dieselben gewonnen.
„Nun, vorwärts. Die Leiche auf den Tisch!“ gebot der Schließer noch einmal mit barscher Stimme.
Sternau gehorchte, und der Schließer trat selbst mit hinzu, um den Toten auf dem Tisch in die rechte Lage zu bringen. Er hatte den Schlüsselbund im Schloß hängen lassen.
„Vorwärts! Marsch!“ kommandierte er, als alles getan war.
„Nein, rückwärts! Marsch!“ antwortete Sternau.
Seine Faust fuhr wie der Blitz empor und wieder nieder, auf die Schläfe des Schließers, der sogleich zu Boden stürzte und besinnungslos liegenblieb.
„Ah, Gott sei Dank. Die alte Kraft ist noch da!“ jubelte der Gefangene in sich hinein.
Er ließ den Schließer nebst der ausgeloschenen Laterne liegen, verschloß das Gewölbe von außen und eilte durch den dunklen Flur. Er erreichte das Tor und zog den Schlüssel hervor, zitternd vor Erwartung, ob er passen werde – er paßte. Sternau schloß auf und stand auf der Straße. Aus allen Fenstern der umstehenden Häuser strömte ihm das beseligende Licht der Weihnachtsbäume entgegen; er war frei. Er hatte im Dunkel gewandelt, und nun wurde es hell. Sie, die beiden Gefangenen, hatten heute zur Weihnacht ihre Erlösung gefunden, der eine durch den Tod und der andere durch die Freiheit.
FÜNFTES KAPITEL
Errettende Liebe
„Es deckt der Schnee die Gräber zu.
Daß nichts den tiefen Schlummer störe.
Kein Lebenslaut, den in der Ruh
Der winterstarren Nacht man höret.
Es glänzen in dem Sternenschein
Die alten, halb verfallnen Mauern.
Und die Zypressen schauen drein,
Als ob die Toten sie bedauern.
Und auf dem
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