42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
freundlich lächelnd.
„Oh, Señor erlaubt es!“ antwortete sie. „Höre also!“
Sie las folgende Zeilen:
„Meine teure Rosita!
Gleich nach meinem gestrigen Brief muß ich Dir diese Zeilen senden.
Vater ist als Konsul nach Mexiko designiert. Er muß schleunigst hinüber, und ich begleite ihn natürlich. Vorher aber muß ich Dich noch einmal sehen. Ich komme nach Rodriganda und werde übermorgen da eintreffen. Kannst Du, so hole mich in Pons ab, wo ich eine halbe Stunde ruhen werde.
Vermelde dem gnädigen Grafen meinen Respekt, und sei herzlich gegrüßt von Deiner
Amy Lindsay.“
„Ist das nicht eine recht große und angenehme Überraschung, mein Vater?“ fragte die Vorleserin.
„Allerdings, mein Kind“, antwortete er. Und sich an den Arzt wendend, sagte er: „Miß Amy Lindsay ist nämlich die Tochter von Sir Henry Lindsay, Graf von Nothingwell, der längere Jahre in Madrid lebte, wo sich die Damen kennenlernten.“
„Erlaubst du, daß ich morgen früh nach Pons fahre, um sie abzuholen?“ fragte Rosa den Grafen.
„Gern!“ antwortete dieser. „Habe ich recht gehört, so ist morgen der Jahrmarkt in Pons. Es wird gut sein, den Kastellan mitzunehmen, mein Kind.“
„Das wird ein sehr mutiger Kavalier und Beschützer sein“, lachte sie.
Gern hätte Sternau seine Begleitung angeboten, doch einesteils hätte das nicht mit dem gesellschaftlichen Verhältnis im Einklang gestanden, und andernteils konnte er seinen Patienten nicht verlassen; darum blieben seine Worte, welche ihm bereits auf den Lippen schwebten, unausgesprochen.
Kurze Zeit später, als alles sich zur Ruhe begeben hatte, schlichen sich zwei Männer hinab nach dem Gewölbe, in welches man den Gefangenen eingesperrt hatte. Es waren Graf Alfonzo und der Notar Cortejo. Vor der Tür des Gewölbes standen zwei Diener, welchen die Aufgabe zugefallen war, den Räuber zu bewachen. Unten angekommen, blieb der Notar zurück, während der Graf einen lauten Schritt annahm, so daß die Wächter sein Kommen hörten. Sie saßen mürrisch am Boden und hatten eine Laterne brennen. Als sie ihren Herrn erkannten, erhoben sie sich ehrfurchtsvoll.
„Hier hinter dieser Tür steckt der Kerl?“ fragte Alfonzo.
„Ja“, antwortete der eine.
„Ich hoffe, daß ihr gute Wache haltet! Laßt ihr ihn entkommen, so dürft ihr auf keine Nachsicht rechnen. Gebt einmal die Laterne her.“
Er tat, als ob er sich seine verlöschte Zigarette anbrennen wolle, griff jedoch absichtlich nicht richtig zu und stieß dem Diener die Laterne aus der Hand, so daß diese zur Erde fiel und zerbrach.
„Ungeschickter!“ zürnte er. „Hebe die Laterne auf; ich werde Licht machen.“
Dabei aber bückte er sich schnell zu Boden und hob die Laterne unbemerkt auf. Während die Diener nun vergeblich umhertasteten und er laut über sie zankte, schlich der Notar herbei, öffnete geräuschlos die Tür des Gewölbes und trat hinein. Graf Alfonzo stellte sich so, daß die Diener nichts bemerken konnten, und als er einige Augenblicke später die Hand des Notars auf seiner Schulter fühlte, zum Zeichen, daß ihr Vorhaben gelungen sei, legte er die Laterne leise auf den Boden nieder und trat zurück.
„Nun, soll ich vielleicht selbst mit suchen helfen?“ zürnte er.
„Hier ist sie, Don Alfonzo“, meinte da der eine der Leute. „Aber das Öl ist verschüttet.“
„So holt anderes. Bis dahin aber brennt der Docht wohl noch.“
Er zog ein Zündholz hervor und steckte das Lämpchen in Brand. Dann öffnete er die Tür des Gewölbes, deren Riegel der Notar leise wieder vorgeschoben hatte, und leuchtete hinein. Das geschah jedoch in der Weise, daß die Diener keinen Blick in das Innere werfen konnten.
„Der Mensch schläft, oder er stellt sich nur so“, sagte er, die Tür verschließend. „Es ist am besten, man stört ihn nicht!“
Mit diesen Worten drehte er sich langsam um und stieg die Treppe empor. Unterdessen hatte sich der Notar mit dem Gefangenen fortgeschlichen. Sie gelangten unbemerkt aus dem Schloß und schritten leise und wortlos in das Dunkel der Nacht hinein. Endlich, als sie keine Überraschung mehr zu befürchten hatten, blieb der Advokat stehen und meinte mit harter Stimme:
„Du hast deinen Auftrag ausgezeichnet ausgeführt, mein Bursche. Soll ich dir den Preis auszahlen?“
„Verzeihung, Señor!“ antwortete der andere. „Man kann auch einmal unglücklich sein in einem Unternehmen.“
„Aber in keinem so wichtigen! Der Capitano scheint mir lauter
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