42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
jedes Sandkörnchen, jeden Grashalm, jeden Zweig befragen können, muß tausend Umstände berücksichtigen, an welche kein anderer denken würde.“
„Haben Sie das auch getan?“
„Ich war ja dazu gezwungen“, antwortete er leichthin.
„Ah, da sind Sie also einer jener berühmten Pfadfinder gewesen, welche ein so romantisches Leben führen?“
Er verbeugte sich mit komischem Stolz und meinte:
„Zu dienen, Miß Amy!“
„Könnte man doch einmal ein Beispiel erleben, um den Scharfsinn eines solchen Präriejägers bewundern zu können!“
„Dieser Wunsch wird Ihnen in Mexiko sehr leicht zu erfüllen sein, hier aber, meine teure Miß – ah, vielleicht ist es auch hier bereits möglich, denn ich sehe hier eine Fährte, welche uns als Beispiel dienen kann.“
Sie hatten sich im Verlauf ihres Gesprächs von den Blumen und von der Kastellanin entfernt und waren nach demjenigen Teil des Parkes gekommen, welcher an die hintere Seite des Schlosses grenzte. Kein gewöhnliches Auge hätte in dem Sand des Weges den Eindruck von Füßen entdecken können, aber der geübte Blick des Arztes, angeregt und geschärft durch den Gegenstand des Gesprächs, erkannte sofort, daß hier mehrere Personen gegangen seien.
„Eine Fährte?“ fragte die schöne Engländerin, indem sie den Boden musterte. „Ich sehe ja nichts!“
„Das glaube ich Ihnen gern, Miß Amy“, antwortete Sternau. „Es gehört allerdings das Auge eines wilden Indianers oder eines erfahrenen Präriejägers dazu, aus der Lage der Sandkörnchen zu schließen, daß dieser wenig gangbare Pfad während dieser Nacht betreten worden ist.“
„Während der Nacht? Mein teurer Sir, das klingt ja nach irgendeinem heimlichen Abenteuer!“
„Oh, wir brauchen nicht sogleich an einen Roman zu denken“, lächelte er. Und indem er ihren Arm ergriff, um sie zurückzuhalten, fuhr er fort: „Bitte bleiben Sie zunächst hier stehen, damit Ihr Fuß die Spuren nicht verwischt!“ Dann bückte er sich nieder, um den Sand zu untersuchen, und fragte: „Jetzt blicken Sie her, Miß Lindsay! Sehen Sie, daß hier die Körner niedergedrückt worden sind?“
Sie folgte seiner Aufforderung, betrachtete den Boden genau und sagte dann überrascht:
„Wirklich, ich sehe einen Eindruck! Und Sie denken, daß er von einem Fuß herrührt?“
„Allerdings. Er rührt von einem großen Stiefel her, von einem Stiefel, der einen sehr breiten und niedrigen Absatz hat, ungefähr so wie von einem Wasserstiefel, wie ihn die Fischer und Schiffer tragen. Und hier ist die Spur des zweiten Stiefels, ganz derjenigen des ersten entsprechend. Und weiter; hier rechts haben Sie noch mehrere Spuren; es sind also hier mehrere Männer gegangen. Und betrachtet man den Rand der Fußeindrücke genau, so sieht man, daß derselbe bereits vollständig eingefallen ist, er ist nicht mehr scharf abgegrenzt, wie es der Fall sein würde, wenn die Leute erst vor kurzer Zeit hier gegangen wären. Sie sind also zur frühen Nachtzeit hier gewesen.“
„Aber solche Stiefel trägt im Schloß keiner“, bemerkte das Mädchen, welches sich für diese eigentümliche Angelegenheit zu interessieren begann.
„Das läßt also vermuten, daß diese Männer hier fremd waren“, antwortete er. „Ich beginne fast, einen kleinen Verdacht zu hegen.“
„Ah, wirklich?“ fragte sie ängstlich.
„Ja. Sie sind vom Schloß hergekommen. Lassen Sie uns sehen, aus welcher Tür!“
Sie verfolgten die Spur nach dem Schloß zurück und kamen an den hinteren Eingang, welchen die Seeleute als Passage benutzt hatten.
„Ah!“ rief Sternau, „sehen Sie, man hat auf dem Herweg eine andere Richtung eingeschlagen als auf dem Rückweg. Diese Männer sind hier links zwischen den Sträuchern herausgekommen, dann aber hier rechts durch den Park gegangen. Es waren also wirklich Fremde. Die Sache wird wirklich bedenklich. Lassen Sie uns eilen! Wir müssen schnell sehen, wohin sie gegangen sind.“
Sie verfolgten die Spur nach dem Park. Amy Lindsay wurde von Minute zu Minute aufgeregter. Sie sah, mit welchem Scharfblick ihr Begleiter die geringste Kleinigkeit berücksichtigte, mit welcher Sicherheit er die Richtung bestimmte, und erstaunte fast, als er, an einer Stelle angekommen, wo der Pfad breiter wurde und der Sand vom Tau noch feucht war, den Boden mit noch größerer Sorgfalt als bisher untersuchte und dann sagte:
„Miß, das wird wunderbar. Es ist ein Schloßbewohner bei den Fremden gewesen. Sehen Sie, dieser Eindruck rührt von
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